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POSITIONEN
I / an den leser, 1-7

zu wolfram groddeck, gunter martens, roland reusz, peter staengle, 'Gespräch über die Bände 7 & 8 der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe', 13./14. dezember 2001

wolfram groddeck ( = WG)
vide korrespondenz 2002; noch als student mitherausgeber der baende 6 'Elegien und Epigramme', 1976, 3 'Jambische und hexametrische Formen', 1977, 2 'Lieder und Hymnen', 1978, 14 'Entwürfe zur Poetik', 1979; die vorarbeiten zu letzterem wurden von professor karl pestalozzi als dissertation angenommen; seither in basel; u a zahlreiche aufsaetze zu nietzsche, hoelderlin und anderen, 'Friedrich Nietzsche, 'Dionysos-Dithyramben'. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk' de gruyter 1991, 'Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens', stroemfeld / nexus 1995, mitherausgeber von 'Text. Kritische Beiträge'

gunter martens ( = GM)
vide e-mail; u a mit karl l. schneider und guenter dammann herausgeber von 'Georg Heym, Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung', niemeyer, mit hans zeller herausgeber von 'Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation', c. h. beck 1971, 'Friedrich Hölderlin', rowohlt-monographie 2000

roland reusz ( = RR)
vide e-mail; er promovierte mit ''… / Die eigene Rede des andern'. Hölderlins Andenken und Mnemosyne', stroemfeld / roter stern 1990, 748 seiten; u a mit peter staengle herausgeber von 'H. v. Kleist […] Kritische Edition sämtlicher Texte […]' und 'Franz Kafka, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte' im gleichen verlag, publikationen zu celan u a

peter staengle ( = PS)
u a publikationen zu Achim von Arnim und Heinrich von Kleist, u a mit roland reusz herausgeber von 'H. v. Kleist […] Kritische Edition sämtlicher Texte […]' und 'Franz Kafka, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte', stroemfeld / roter stern, mitherausgeber von 'Text. Kritische Beiträge'



AN DEN LESER  (19. august 2002)


                                                                              entferne dich es geht an
                                                                              am euphrat p 90


das gespraech wurde mir am todestag hoelderlins per e-mail von roland reusz, dem herausgeber von 'Text. Kritische Beiträge' und 'vorsitzenden' des instituts fuer textkritik e v (ITK), zugestellt; jener verein wurde von adrian braunbehrens, wolfram groddeck, walter morgenthaler, roland reusz, d e sattler und peter staengle zusammen mit kd wolff, verlag stroemfeld / roter stern, 1994 gegruendet

'Als Kooperative unabhängiger Editionen und Editoren unternimmt das ITK den Versuch, detaillierte philologische Grundlagenforschung mit avancierten Techniken der Textdarstellung zu verbinden.' (http://www.textkritik.de/about/about.htm)

gegen den grundsatz der 'Kooperative' verstiesz schon die 'kleine Tagung' am 13./14. dezember 2001 in ottrott / elsasz insofern, als sie ohne meine kenntnis stattfand, obwohl oder weil sie der kritischen betrachtung meiner sache, prinzipien und begriffe galt; weder gunter martens, als er zu diesem anlasz ein exemplar der 'hesperischen Gesänge' erbat (vide e-mail vom 9. 12. 2001), noch wolfram groddeck, den ich wegen des polemischen tons eigener und anderer aeuszerungen befragte, gaben einen hinweis; von letzterem erhielt ich lediglich den bescheid, dasz er 'kein Bedürfnis danach' habe, nach meinen 'Diskursvorgaben' zu debattieren (vide e-mail vom 4. 2. 2002); ich konnte nicht wissen, dasz zu diesem zeitpunkt die diskursvorgaben schon festgelegt waren; in meinem vorausgehenden brief an wolfram groddeck habe ich auch an meinen satz 'edition ist oeffentliche sache' erinnert ('Text. Kritische Beiträge', 5, p 43) und auf dementsprechende handhabung des mediums internet hingewiesen (vide e-mail vom 30. 1. 2002):

dieser brief wird im internet veröffentlicht, das gleiche würde für Deine antwort gelten; edition ist öffentliche sache, demgemäß gilt für mich Kants am schluß des entwurfs 'Zum ewigen Frieden' stehende formel des öffentlichen rechts: ' A l l e  a u f  d a s  R e c h t  a n d e r e r  M e n s c h e n  b e z o g e n e n  H a n d l u n g e n ,  d e r e n  M a x i m e  s i c h  n i c h t  m i t  P u b l i z i t ä t  v e r t r ä g t ,  s i n d  u n r e c h t . '

in diesem zusammenhang kann nicht verschwiegen werden, dasz der stroemfeld verlag am 7. 12. 2001 zur bestimmung eines dann auch vom hessischen ministerium fuer wissenschaft und kunst gewaehrten, an das institut fuer textkritik e v ueberwiesenen foerderbetrags in hoehe von dm 30.000 mitteilte

Die beantragte Sachbeihilfe ist bestimmt für neue verbesserte Aufnahmen von Hölderlin-Handschriften sowie für einen wissenschafltichen Mitarbeiter des FHA-Herausgebers…

und dasz diese summe ohne befragen des herausgebers an den verlag, wohl als druckkostenzuschusz fuer schon erschienene baende, weitergeleitet wurde (vide frankfurter rundschau, 24. 1. 2002); ich war danach genoetigt, drei bruttogehaelter des unerlaeszlichen mitarbeiters und mitherausgebers hans gerhard steimer aus eigenen, nicht vorhandenen mitteln zu 'finanzieren'; nur eine letzte, einjaehrige foerderung durch die deutsche forschungsgemeinschaft beendete die untragbare situation, die im januar 2003 erneut eintreten wird; um den abschlusz der edition, die weiterfuehrung des internet-archivs und die arbeit an kommentar und leseausgabe zu ermoeglichen, muszte ich der universitaet bremen vorschlagen, meinen anstellungsvertrag vor der zeit zu beenden und dafuer hans gerhard steimer zu beschaeftigen

nicht nur das bis zu diesem punkt gediehene editionsvorhaben hoelderlin, sondern auch dessen beendigung ist durch jenes nichts weniger als 'kooperative' papier, dem ich mich hier – neben dem taeglichen editionspensum – zu widmen habe, in frage gestellt; die im layout der zeitschrift 'Text' 55 seiten umfassende niederschrift des gespraechs wurde von einem tiefer sorge um den geregelten fortgang des editionswesens ausdruck gebenden und auch sonst im ton bemerkenswerten schreiben begleitet:

[…] Ihre Edition der Bände 7/8 der Frankfurter Ausgabe haben Wolfram Groddeck, Gunter Martens, Peter Staengle und ich zum Anlaß genommen, uns in der Form einer Gesprächsrezension ausführlicher mit dem Gegenstand zu beschäftigen. Ich würde mich freuen, wenn Sie das nunmehr transkribierte Gespräch, das ich als pdf-Datei mitschicke, als Eröffnung eines öffentlichen Dialogs und nicht als Angriff verstünden. Die Bände 7/8 sind für die Entwicklung der neueren Editorik von zu großer Bedeutung, als daß Sie unbesprochen und unwidersprochen bleiben könnten. / Sie sind hiermit eingeladen, zu der Rezension Stellung zu nehmen. Wir drucken sie, wenn Sie zu einer Replik Lust und Laune haben, gerne im selben Heft (2002 oder 2003). […]

im journal neue seiten ist nachzulesen, dasz ich seit 5. august, unter wechselnden titeln, nach der adaequatesten, das heiszt auch vom schmaehlichen federkrieg sich unterscheidenden form meiner richtigstellungen suche, um moeglichst unkontaminiert aus der mir aufgenoetigten kontroverse hervorzugehn; ende voriger woche schien es mir schlieszlich das beste, wenn ich meinen positionen das gespraech in seiner ungekuerzten laenge gegenueberstellte; nur auf diese weise koennte dieses fuer sich selbst sprechen, und ich haette die freiheit zur unbelasteten darlegung dessen, was mir wichtig ist; mein latent anarchisches bewusztsein vergasz, dasz die agrapta kasjalh Jewn nomima (FHA 16: 308), auf die sich antigonae vor kreon beruft – die 'ungeschriebnen […], / Die festen Sazungen im Himmel' (naemlich das allen rechtlichen selbstverstaendliche rechtsgefuehl) selten genug mit dem papiernen und wechselnden gesetz der rechtsstaatlichkeit uebereinstimmen

am abend des 18. lese ich die folgende drohung; der ihr vorangestellte verteiler deutet an, auf welche art die nach eben erfolgtem erscheinen von heft 2002 irgendwann 2003 zu erwartende publikation der 'Gesprächsrezension' schon jetzt in samizdat-manier zwar nicht veroeffentlicht, aber verbreitet wird; sicherheitshalber ging diese auch an die den server der hoelderlin-arbeitsstelle betreuende abteilung der universitaet bremen:

16. august 2002
From: Roland Reuß, To: des
CC: Adrian Braunbehrens, Barbara von Reibnitz, D. E. Sattler, Konstanze Fliedl, Peter Staengle, Stroemfeld-Verlag, Walter Morgenthaler, Wolfram Groddeck, KD Wolff
Subject: Abmahnung
[…] die von Ihnen vorgenommene Publikation unseres Hölderlin-Gespräches verletzt eklatant Urheberrechts-Bestimmungen. Sie ist weder von mir als von dem verantwortlichen Herausgeber, noch von Herrn Groddeck oder Herrn Martens genehmigt worden. Das ist kein Kavaliersdelikt. Sie entfernen diese Passagen umgehend von Ihrer Website, sonst erhalten Sie am Montag nächster Woche eine kostenpflichtige Abmahnung. Eine Beschwerde an Ihren Provider habe ich bereits abgeschickt. […]

die ziemlich gewoehnliche, zwischen delikt und 'Kavaliersdelikt' unterscheidende denkart ist mir fremd; doch kommt jene reaktion in ihrer krummheit gerade recht, um der umfangreichen, noch am beginn stehenden arbeit ihre richtige und bleibende gestalt zu geben; es folgt also die verlangte umformung des beginns

bei aller nachgiebigkeit musz ich allerdings jene grenze ziehen, an welcher das recht der anderen unwiderruflich endet, weil ihre ueberschreitung das meine 'eklatant' verletzte; zum einen wurde mir eine replik zugestanden; die guetige erlaubnis, dasz diese zu einem spaeteren zeitpunkt im organ meiner gegner erscheinen koenne, musz ich nicht wahrnehmen; zum zweiten denke ich als angegriffener das recht zur sofortigen antwort zu haben; dies schon darum, weil meine zeit auf der gasse egypten bemessen ist; auch wenn das original nicht unbedingt eine replik wert ist, musz ich es zum dritten in der mir zu diesem zweck zugestellten form als endgueltig betrachten; ich bin also nicht verpflichtet, nochmals auf etwaige aenderungen dieses dokuments einzugehen und werde dieses bei meiner antikritik in den eckpunkten und seinen bemerkenswerten, die sache selbst und mich betreffenden aeuszerungen fixieren; dies alles im rahmen des geltenden presse- und urheberrechts

die abschnittweise vorgehende methode einer entgegnung, die schon in 'Hydra. Rezension einer Rezension im 39. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft' ('Text. Kritische Beiträge' 3) kein detail der invektive jochen schmidts auszer acht liesz, ist auch hier anzuwenden; sie fordert ein moeglichst genaues und umfassendes referat des von oben herab gesagten; dies umso mehr, als wolfram groddeck, gunter martens, roland reusz und peter staengle ueber die ergebnisse eines jahrzehntelangen studiums urteilen, ohne diese in ihrer sachhaltigkeit zur kenntnis zu nehmen; indem sie in fragwuerdiger weise praemissen und begriffe des herausgebers in frage stellen, legen sie nahe, dasz eine eingehendere lektuere des edierten entbehrlich sei; mit der en passant veranstalteten 'Gesprächsrezension' wurde somit der rufschaedigende versuch unternommen, den wert eines gleichfalls unter urheberschutz stehenden werks a priori herabzusetzen und dessen inhalte zu annullieren; bei untersuchung der rechtslage nach dem buchstaben geltenden rechts waeren neben der notwendigkeit einer unverzueglichen entgegnung auch die gesichtspunkte der angemessenheit in anschlag zu bringen; eine gruendliche widerlegung ist unmoeglich ohne benennung all dessen, das um der sache willen widerlegt werden musz

die in einigen hoelderlin-zitaten erscheinenden doppelpunkte  ::  bezeichnen den in FHA 7/8 'gesänge', stroemfeld / roter stern 2001, sowie Friedrich Hölderlin, 'hesperische Gesänge', neue bremer presse 2001, edierten rapport der segmente


RR   'Wir sind heute […] in den Text eingreifen.'; 61 zeilen; man sei am 13./14. dezember 2001 hier in ottrott, um fuer 'unsere Zeitschrift' eine neue form der rezension editorischer arbeiten zu etablieren; es sei geplant, einmal jährlich eine solche 'Unternehmung zu riskieren'; eroeffnet werde diese art, 'sich kolloquial und mündlich mit bedeutenden Editionen zu beschäftigen' mit den mitte 2001 erschienenen baenden FHA 7/8; nach dem bericht ueber die lektuere des einleitungsbandes von 1975 – 'Ich war siebzehn…' – wird die edition als 'Motivationsmittel' gewuerdigt, sich 'selber mit Editionen zu beschäftigen'; schon deswegen, weil 'man eine solche Ausgabe machen kann, und man wird trotzdem nicht ans Kreuz genagelt'; auf diese entgleisung folgt sogleich eine weitere: 'Neben dieser Ermutigung gab es auch eine Bestärkung darin, daß es sinnvoll ist – und so ist es jedenfalls programmatisch immer vorgetragen worden, und ich habe mir das zu eigen gemacht –, die Traditionen, die wir bewohnen und die auf uns gekommen sind, so durchsichtig zu machen, daß wir begreifen, worin wir uns geistig aufhalten.'; im vergleich zwischen FHA und etwa einer 'Taschenbuchausgabe der Beißnerschen Edition' wurde ihm deutlich, 'was ein Wissenschaftsapparat mit einer Überlieferung macht, wenn er als Filter funktioniert'; 'Witzigerweise' ist ihm das 'nicht an der Handschrift aufgestoßen, sondern an der Diskussion um den von Beißner hinzugefügten Punkt im Gedicht 'Der Winkel von Hahrdt''

WG   'Mir erging es ähnlich […] zu Unrecht ergänzt worden war.'; 9 zeilen; war bei 'der berühmten Züricher Veranstaltung mit Wolfgang Binder, D. E. Sattler, KD Wolff' anwesend und kommt sofort auf den punkt: 'für uns und die Leute, die dann auch in die Editionswissenschaft gegangen sind' war es wichtig, und zwar 'jenseits der Frage, ob sie nun besser als die 'Stuttgarter Ausgabe' ist oder nicht', dasz mit der 'neuen Hölderlin-Ausgabe etwas Ideologie- oder Institutionskritisches passiert war'; immerhin hätte 'der Abdruck von 'Der Winkel von Hahrdt'' im einleitungsband 'drei Druckfehler' gehabt


1  WAS WEM WICHTIG WAR

also ging es crethi und plethi weniger um die wissenschaft, der sie zuliefen, und schon gar nicht um einen ihrer gegenstaende


2  FEHLER

der einleitungsband wurde von k d wolff gesetzt; die stehengebliebenen druckfehler fuehrten zur beteiligung von wolfram groddeck und aller spaeteren mitarbeiter und mitherausgeber, andere unzulaenglichkeiten zur aenderung des editorischen modells; in diesem sinn sind fehler und irrtuemer nicht einfach falsch und nur bedingt merkmal fuer wertungen wie 'besser' oder 'schlechter'; hoelderlins uebertragungen des pindar und sophokles zum beispiel uebertreffen alle schulmaeszigen uebersetzungen, obwohl sie der pedantischen elle nicht genuegen; in wissenschaftlichen publikationen haben fehler selbstredend keine dichterische qualitaet; sie erweisen sich stets als positionen auf der aller wissenschaft eingeschriebenen, nirgendwo gerade verlaufenden perfektibilitaetslinie; es hat der sache nur genuetzt und in nichts geschadet, dasz der von friedrich beiszner nicht edierte satz auf seite 74 des homburger foliohefts von mir als 'Der Rosse Leib war der Geist' entziffert wurde; die fehllesung verschwand in der arbeit, die sie in gang setzte und verlor in dieser funktion alle negative qualitaet


3  SZIENTIFISCHE VOLLENDUNGSLUEGE

dasz fehlerfreiheit ein ideal bleibt, mueszte jeder aus erfahrung wissen; dies gilt auch fuer wolfram groddeck als korrektor des ersterschienenen textbandes FHA 6 'Elegien und Epigramme'; im uebrigen ist das gestoerte verhaeltnis zum eigenen uneingestandenen, bei anderen angeprangerten fehler kennzeichen einer geisteswissenschaft, welche noch immer die szientifische vollendungsluege aufrechterhaelt; zu ihr hat hoelderlin schon 1795, in seinem philosophischen fragment 'Hermokrates an Cephalus', das noetige gesagt (vide 'Text. Kritische Beiträge' 3, p 124)


GM   'Das Institutionskritische […] sehr intensiv diskutiert.'; 19 zeilen; referiert das verfahren der FHA von der 'Textüberlieferung, bis hin zur Textkonstitution', und dasz dieser 'Prozeß' diametral dem endgueltigen, fertigen entgegen liefe, 'was bisher von den Editionen erwartet wurde'; benennt als faszinosum, dasz man hier stattdessen 'als Leser in den Prozeß der Textentstehung und Textfindung mit hineingerissen' wurde; bei hoederlin habe dies 'eine eminent wichtige Bedeutung', weil 'sehr viele seiner Texte […] Bruchstücke geblieben' seien; ihn habe aber schon 'bei den ersten Präsentationen der 'Frankfurter Hölderlin-Ausgabe' der vierte Schritt gestört, gerade bei Bruchstücken einen fertigen, 'konstituierten‘ Text vorzuschlagen'; darueber haetten sie 'mit dem Herausgeber Sattler sehr intensiv diskutiert'; der nicht genannte ist der herausgeber und editionstheoretiker hans zeller, fribourg


4  KONSTITUIERTER TEXT

wenn die paraphrase 'Prozeß der Textentstehung und Textfindung' den werkprozesz auf seite des dichters bezeichnet, steht ihm die textkonstitution als dessen rezeptiver nachvollzug gegenueber; fuer diese dritte darstellungsform wurde im editorischen modell der FHA der begriff 'lineare textdarstellung' gepraegt; diese schien mir ueberall dort notwendig, wo sich der letztintendierte text nicht aus reinschriften, reinschriftaehnlichen manuskripten oder aus sekundaerueberlieferungen ergab (wobei letztere ohnehin eines anderen textkritischen instrumentariums beduerfen); mithin ist der im vierten schritt gebotene konstituierte text ergebnis der linearen textdarstellung und schon aus dieser – wenn auch mit groeszerer muehe – ablesbar; der von gunter martens erhobene einwand gegen den konstituierten text mueszte demnach auch jene editorische analyse erfassen, auf der er beruht; insofern schien er mir abwegig; zu diskutieren waere allerdings, ob historisch-kritische ausgaben als basis von leseausgaben schon deren desiderate uebernehmen sollten; ich persoenlich bin waehrend meiner annaehernd dreiszigjaehrigen editionsarbeit zu der einsicht gelangt, dasz die maximen beider editionsformen nicht vermischt werden sollten; aus diesem grund habe ich den baenden 7/8 'gesänge' – als erstem versuch einer sowohl chronologischen als auch semantisch kohaerenten darstellung des unter dem titel 'gesänge' zu subsumierenden materials – die 'hesperischen Gesänge' als resultat jener editorischen anstrengung gegenuebergestellt


5  BRUCHSTUECK – TEXT – SEGMENT – FRAGMENT

unter dem titel 'Bruchstücke' edierte friedrich beiszner von ihm nicht zuzuordnende textsegmente, wobei mit dem begriff auch das verfahren unerklaert blieb, nach welchem 92 'Pläne und Bruchstücke' verschiedenster form und herkunft im textband geboten wurden und eine nicht gezaehlte menge gleichartiger segmente im lesartenband verschwand; gunter martens dehnt nun offenbar den begriff des bruchstueckhaften oder der bruchstuecke auf alle werkkonzepte, werkvorstufen und abbrechende werkentwuerfe, mithin auf alles unfertige aus; er bestaetigt damit mittelbar den warencharakter dessen, was gemeinhin 'text' genannt wird; der unterschied zwischen jenem und dem geschriebenen besteht wohl darin, dasz in diesem die prozessualen momente manifest, im 'text' hingegen geloescht sind; demnach waere 'text' das edierte oder redigierte ergebnis einer jeden niederschrift, unabhaengig von ihrem umfang und ihrer form; ebenso ist der begriff 'Bruchstück' von dem des fragments oder segments abzugrenzen; schon dem namen nach ist bruchstueck teil von etwas, das einst ein ganzes war, doch dann zerbrach; segment dagegen heiszt ein teil von etwas, das schon als ganzes da ist oder dieses ganze werden soll; als fragment ist ein abbrechendes oder unvollstaendig ueberliefertes werk zu bezeichnen; fuer den begriff bruchstueck sehe ich im editorischen bereich keine verwendung


6  PHAENOMENOLOGISIERUNG DER TEXTFORMEN

in den baenden 1-6 und 9-17 waren also plaene, konzepte, entwuerfe, reinschriften, ueberarbeitungen, abschriften, durch setzergewohnheit und druckfehler entstellte sowie von fremder hand redigierte drucke zu edieren, nirgendwo jedoch der text von 'Bruchstücken' vorzuschlagen; insofern waere gunter martens' einwand allenfalls auf den einleitungsband von 1975 oder auf die in einer spaeteren phase der gespraechsrezension diskutierte editionsform der baende 7/8 zu beziehen; aber auch in seinen frueheren versionen abstrahierte er in meinen augen von den bedingungen des 1976 vorgelegten editorischen modells; in diesem steht der konstituierte text in einer reihe von begrifflich neu bestimmten textformen; bei reinschriften, reinschriftaehnlichen handschriften und drucken erscheinen die rubriken 'unemendierter text' und 'emendierter text', bei redigierten drucken oder abschriften die rubrik 'differenzierter text'; nicht einzusehen war, warum bei dieser editorischen phaenomenologisierung der textformen ausgerechnet der 'konstituierte text' ausgespart bleiben sollte


7  MEHRDIMENSIONALES MODELL

diese ihrem modell nach vollstaendige historisch-kritische ausgabe bietet die abbildung und die typographisch differenzierte umschrift der ueberlieferten manuskripte, und, in anlehnung an die praxis aller serioesen textkritischen editionen, abweichungskataloge zu den lesarten der vorangehenden stuttgarter ausgabe; danach, auf der grundlage dieser dokumentierenden darstellung, die editorische darstellung des ueberlieferten materials als lineare textdarstellung oder in varianten- und emendationskatalogen und die ergebnisse jener editorischen analyse in form der oben genannten textrubriken, an deren stelle in den baenden 7/8 'gesänge' der 'kumulative text' tritt; vide 11; deswegen scheint mir gunter martens' einwand, auch in seiner puristischen form, nicht relevant; der darstellungsform 'text' stehen ja die drei vorausgehenden und miteinander kommunizierenden editionsstufen gleichberechtigt gegenueber; anders als etwa in friedrich beiszners zweidimensionaler, 'Lesarten' und 'Text' bietender stuttgarter ausgabe oder in juengeren, zu bloszer dokumentation tendierenden, oder dokumentierende und analytische textdarstellung verquickenden editionen ist hier die kategorie 'text' legitimiert durch ihre systematische, schritt fuer schritt ueberpruefbare vorbereitung

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