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reuchlinloewe - tuebingen, bursagasse


Der Reuchlinlöwe

Wer fremd in Tübigen den schmalen Durchlaß zu Neckarufer und Turm suchte, ist vielleicht vor ihm stehen geblieben – wie er die gewaltigen Pranken in den unebenen, um nicht zu sagen wüsten Boden einkrallt, als gäbe es etwas, das ihm diesen bestritte, den Schweif zwischen den Schenkeln hindurch über den Rücken geworfen, das breite Haupt von der Wand weggewendet, in welche der Sockel eingelassen ist, auf dem er, bis zum vorigen Augenblick, noch zu ruhen schien; kein Symbol herrscherlicher Würde und Macht; wie die gezähmten Löwen an Stufen und Toren, sondern ein Dämon, bedrängend und selbst bedrängt, auf die Erde geschleudert und von einem unbekannten Renaissancemeister materialisiert. Die Inschrift errinert an den Humanisten und Kabbalisten Reuchlin, der vielleicht in dem einstmals an dieser Stelle stehenden Haus gegen Ende seines Lebens gewohnt hat, und an dessen Todesjahr 1522.

Ein Denkmal, sicher, aber für was? Dante stellen sich im Eingang der 'Divina Commedia' die Laster der Lebensalter, Lust, Stolz und Geiz, in Gestalt des gefleckten Pardels, des hungrigen Löwen, der abgemagerten und beladenen Wölfin entgegen. Ähnlich allegorisiert Tizian in dem Londoner Bild eines dreigesichten Tiermenschen das Abgründige hinter den Mienen. In beiden Fällen einer präfigurierten Analyse vertritt der Löwe einen eingrenzbaren Typus. In dem Reuchlinlöwen scheint eher die entgegengesetzte Wirkung beabsichtigt: das Ungebändigte als Gegenfigur des wahrhaft Humanen, kaum mehr ein Bild der chtonischen Mächte, die Herakles zu besiegen hatte – Vision, die aufsteigt, wenn die Angst nach einem Ausdruck im Arsenal des Bekannten sucht. Diesen und keinen anderen ruft Hölderlin ins Gedächtnis:

Vom Abgrund nemlich haben
Wir angefangen und gegangen
Dem Leuen gleich
Der lieget
In dem Brand
Der Wüste.

Die Bursagasse als Wüste…