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d e sattler, hoelderlin oder: die revolution der gesinnungen und vorstellungsarten


     Und der Himmel wird wie eines
                                              Mahlers Haus
     Wenn seine Gemählde sind aufgestellet


Trauermarsch

1
Zuweilen nennen die Deutschen Hölderlins Namen, wenn zufällig die Rede darauf kommt, daß der Weltlauf die Besseren überwältige und zugrunde richte, diese Unkorrumpierten, von denen es zuletzt, im süßlichen Tonfall der Nekrologe, heißt, die Welt sei ihrer nicht würdig gewesen. Doch diese Sorte von Wahrheit ist Falschgeld. Als besiegte der prophetische Zusammenbruch der kritisch befestigten, von Hegel zum Dogma erhobenen Vernunft ein Mißlingen schlechthin, bleibt jene Ansicht in den Kategorien des alten Weltbilds, die das bürgerliche Scheitern des Dichters exemplarisch durchbrach.


     
Streng  Wie ein Kondukt

2
Fast unbemerkt von der Mitweit war das Neue in die Wirklichkeit getreten, noch eine Zeitlang anwesend, verborgen im halbrunden Zimmer des Turms, während Deutschland in den todähnlichen Schlaf seines Biedermeier versank und die alte, unheilschwangere Geschichte, die mit der Französischen Revolution und dem Aufstieg des jungen Buonaparte schon einmal zu enden schien, ihren letzten tenebren Siegeszug antrat.

 
      Etwas gehaltner

3
Die Sonne der Aufklärung war untergegangen, mit ihr das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Die Orthodoxie des Faktischen hatte begonnen, die letzte Nacht einer mythischreal gezählten sechstausendjährigen Apokalypse:

                                                        … um die Dämmerung noch
     Ein Saitenspiel tönt. Gegen das Meer zischt
     Der Knall der Jagd. Die Aegypterin aber, offnen Busens sizt
     Immersingend, wegen Mühe gichtisch das Gelenk
     Im Wald am Feuer.

Seit der Vision vom Gericht, vom zukünftigen Frieden meint jene Metapher das Abgöttische, den Irrgeist menschlicher Selbstgewißheit, die mit Scheuklappen durchs Ungewisse ziehende Wissenschaft, den Geist des Eigennutzes, der, jetzt sichtbar, den gemeinsamen Wald, die lebendige Welt verheizt, um sein abgelebtes Leben noch eine Stunde zu fristen.

 
      Wie zu Anfang
 
 
 

 
 
     
Nicht schleppen

4
Dagegen die andere Stimme:

                                            Recht Gewissen bedeutend
     Der Wolken und der Seen des Gestirns
     Rauscht in Schottland oder an dem See
     Lombardas dann ein Bach vorüber. Knaben spielen
     Perlfrischen Lebens gewohnt so um Gestalten
     Der Meister, oder der Leichen, oder es rauscht so
                                                     um der Thürme Kronen
     Sanfter Schwalben Geschrei.

So verhält sich der Gesang, das dichterische Dasein, zum auf sich selbst fixierten Dasein dessen, das nur seinen Wünschen folgt, das bestenfalls der Not gehorcht, das bis zum Gehtnichtmehr seinem Vorteil nachjagt, zum Gewissenlosen, das endlich fühlen muß, weil es nicht hören, nicht sehen wollte.


     
Wieder etwas gehaltener

 
 
 
 

 
     
Sehr steigernd

5
Ebendeswegen: damit über dem Kargen dort, dem Üppigen hier das Warnende nicht verschwinde, ist öffentlich von dem  a n d e r e n  zu sprechen, das, den Verhältnissen zum Trotz, jederzeit wirklich werden kann. In Einzelnen, die den Gedanken des Ganzen, und damit sich selbst, noch nicht ganz aufgegeben haben.
 

6
Denn soviel ist aus der Feuerschrift der Wand herauszulesen, die sich am Horizont zusammenzieht. Behielte der zu Hölderlins Zeit noch einmal freigelassene 'Nachtgeist' die Oberhand, nähme das Verhängnis seinen Lauf. Wenn kein Wunder geschieht, hilft nur Eines, das selbst ein Wunder wäre: der Sieg über das Inferiore. Es bleibt nur diese Hoffnung: daß diejenigen, die noch bei Besinnung sind, nachdem die Änderung der alten Mißverhältnisse so gründlich mißlang, die schlechten 'Gesinnungen', die grundfalschen 'Vorstellungsarten' verwerfen, die sich mit jenen erhielten und die sich schamlos, zu deren Erhaltung, öffentlich fortpflanzen dürfen.
 

7
Bei den verbrannten Städten! die Mythen sind wahr und anwendbar. Das macht sie so unerträglich. Kein Wunder, daß sie aus dem herrschenden Bewußtsein verstoßen sind. Lieber zerbricht das Lügnerische den Spiegel, als daß es in ihm seine wahre Gestalt, sein in der Türe stehendes Schicksal erblickte.

 
     
Plötzlich schneller  Leidenschaftlich
     
Wild

8
Solange noch, und sei es nur in wenigen, ein Recht leben würde, sollten Sodom und Gomorrha nicht untergehen. Als die Fremdlinge kamen, um das zu prüfen, drängten sich die Vergewaltiger um das Haus, in dem sie wohnten, und drückten fast die Türe ein. Die ihrerseits schlugen jene mit Blindheit und gingen am nächsten Morgen, ohne sich umzusehn, fort.
 

9
Was dann geschah, ist bekannt. Unübersehbar die Ähnlichkeit mit dem Inferno, das wir Abgestumpften uns gegenseitig androhn. Das vor Augen, ist nicht gleichgültig, was mit Hölderlin geschieht. Ob seine Botschaft verstanden, ob sie mißbraucht, ob sie als unmaßgeblich beiseite geschoben wird.
 

10
Daß ja keinem in den Sinn kommt, auf den Geist der pragmatischen Vernunft zu verweisen, auf die Realmacht der steinernen Türme, auf die Ohnmacht der Schwalben, die sie umfliegen, auf die Vergeblichkeit kritischen Geschreis. Daß ja keinem einfällt, hier von der Überlegenheit der opportunistischen Vernunft (die sich dem Weltlauf andient) über den dichterischen Geist zu sprechen. Daß dieser der gegenüber wirkungslos sei, nichts als Gedankenspiel, untauglich für die Welt.

 
 
 
 
 
     
Allmählich sich beruhigend

11
Kennt den jemand? Weiß denn jemand, was er da redet, wenn er einem Dichter wie diesem den Geist abspricht? War der nicht lange genug in den Untergrund einer Staaten- und Kriegsgeschichte verbannt, die jetzt ihr eigenes Grab gräbt? Wer anders als die Totengräber, die selbst daran verdienen, wollte uns jetzt noch allen Ernstes die Segnungen jener füchsischen Klugheit anpreisen. Wohin auch der Blick fällt: nichts als Desaster. Naiv oder verantwortungslos, wer jene falsch deklarierte Ware, jene irre Vernunft unter die Leute zu bringen, dreist, wer jene Lügenwahrheit feilzuhalten versucht, noch jetzt, wo ihr dickes Ende herauskommt.

 
 
     
Unmerklich zu Tempo I
     
zurückkehren


     
Tempo I

12
Der dichterische, der arbeitende Geist ist das Reale. Er wirkt, nicht das Wirkliche. In 'Knechtsgestalt' ist er Herr der Verhältnisse. Deshalb mißriet die Veränderung der Welt, zu der sich die nachkantische Philosophie berufen fühlte, weil sie der sogenannten Realität Priorität einräumte und damit ihr eigenstes Element vernachlässigte. Weil sie die Erneuerung des Denkens versäumte, ging das Geistlose auf, das Realunmenschliche in den programmgemäß veränderten Verhältnissen.

 
     
Schwer

13
Es ist der Geist, der lebendig macht. Das Gegenteilige tötet. Hier fällt die Entscheidung, nicht bei den Lombardzinsen und Grenzverhauen. Nicht bei den Bankiers, nicht bei den Ideologen.
 

14
Die Völker haben furchtbar genug erfahren, welcher Geist ihre Ausrottung beschließt, nach welchem Gesetz, mit welchen Mitteln er zur Ausführung schreitet. Derselbe, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Vergangenes zeigt und dabei dem gegenwärtig Greuelhaften, dem Fortgang der Verwüstung den Rücken zukehrt, als habe sich irgend etwas geändert. Eben das ist nicht wahr. Der 'Nachtgeist' herrscht und keiner kann sagen, er habe nichts davon gewußt, er hätte ihn nicht gewollt. O nein! Wir haben ihn nicht nur geduldet. Wir wählten ihn allesamt und wählen ihn noch.
 

15
Das muß nicht so bleiben. Sind die Gedanken nicht frei, dort wegzugehn, wo sie nichts mehr hält, den Schwindelgeist und seine Türme zu verlassen, seiner Gewohnheiten, seiner Vorschriften und Verbote zu spotten, der Ämter und Ehren, mit denen er seinesgleichen verpflichtet, ihm, was auch geschehe, die Stange zu halten, für ihn die eisernen Fahnen zu schwenken.

 
     
Immer dasselbe Tempo

     
steigernd

16
Was zögern wir noch? Ins Dröhnen der Schreckensposaunen mischt sich der Hornruf des Wächters. Schon zweifeln die Bäume, ob Leben noch möglich sei. Was hält uns noch auf? Die Flüsse stinken, vergiftete Vögel fallen vom Himmel. Erde und Meer sind erkrankt. Die Seuche, die sie befiel, ist nicht am Symptom zu kurieren. Wir müssen vorher hinaus, so gerne wir weiterschliefen. Wenn die Sirenen erst heulen, ist es zu spät.

17
Aber wohin? Alle befahrbaren Straßen führen zum Abgrund. Nur nicht der einsame Weg, der durch den Wahnsinn führte, der danach gebahnt ist.

18
Im Trauermarsch von Mahlers Symphonie cis-moll, nach deren Plan diese Rede fortschreitet, steht an dieser Stelle der Zusammenbruch, nach Adornos Wort, ein 'quasi räumliches Feld', für das hier Wüste zu setzen ist. Keine äußere, wie sie die Israeliten durchzogen (als Pharao, der ihre Fleischtöpfe füllte, den Tod aller Erstgeburt, ihre schleichende Auslöschung verordnet hatte), sondern ein intellektueller, den die Musik im gestaltlosen Zugleich, dem Aufschrei aller, als gemeinsam erlittene Katastrophe simuliert, als reinigendes Erschrecken. Was die Rede nicht darf, ist den Tönen erlaubt: frohlocken im Innern der kathartischen Klage, die Verwandlung bewirkt, anstelle des Todes.

 
     
Klagend  Zurückhaltend


     
Poco meno mosso

     
Streng im Tempo

19
Denen, die sich zum Auszug entschließen, ist die wirkliche Welt, noch vor ihrer tatsächlichen Verwüstung, zu Wüste geworden, weil sie die verwüstenden Tendenzen in den herrschenden Maximen wahrnehmen. Ihr Aufbruch ist keine Ausflucht. Indem sie in den Verhältnissen bleiben, zerbrechen sie die intellektuellen Konstruktionen, die jenen, noch mitten im Untergang, den Anschein von Dauer geben. Sie kommen der Welt nicht abhanden, sondern beginnen in ihr, als Weltliche, den Streit mit dem Ungeist, der, seiner Nichtigkeit wegen, auf nichts als ihre Vernichtung sinnt.

 
     
Schwer


Stürmisch bewegt
 

1
'Ich glaube an eine Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige  s c h a a m r o t h  machen wird.' schrieb Hölderlin Anfang 1797 an Johann Gottfried Ebel in Paris, einen tätigen Republikaner, der sich enttäuscht über die Entwicklung der französischen Dinge geäußert hatte. Das Bekenntnis beleuchtet den Mangel der politischen Umstürze: daß sie nichts weiter sind als das, daß nach ihnen der alte unrepublikanische Geist weiterherrschte, unter dem Vorwand, er sei ein anderer geworden.

 
     
Mit größter Vehemenz
     
rit. a tempo 

2
Unausgesprochen erklärt der kühne Satz die Parolen, die dem Aufruhr vorausflogen, die emphatischen Manifeste, den öffentlichen Ausruf von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Deklaration der Menschenrechte, in deren Namen das Namenlose ungehindert weitergehen konnte, die hochfliegenden Ideale, an denen sich die Tübinger Hymnen entzündet hatten, beim Wort genommen als das schamlose Geschwätz, das den betrügerischen Rechtsgrund der Staaten bis heute beim Namen nennt.
 

3
Nicht allein, daß in der Guillotine und den gefüllten Opferkarren der Kult um das höhere Wesen, dessen die 'stokfinstere Aufklärung' (so Hölderlin an den Bruder) nach dem Triumph nicht entbehren konnte, die Vernunft, das heißt die Staatsraison, genauer das pragmatische Interesse der herrschenden Partei in Gestalt einer Tötungsmaschine Fleisch geworden war, daß die menschlichen Beziehungen, die vielfältigen gesellschaftlichen Zusammenhänge nunmehr ausschließlich vom Gesetz der 'Notdurft' regiert wurden, forderte Widerspruch.
 

4
Was schwerer ist, auch den Widerruf früherer Überzeugungen: Palinodie oder Umkehrung des Falschen, bevor es das 'Menschenbild' deformiert. Wenn am Alten das Übel hängt, muß das Neue mit Reinigung
beginnen. Ohne Reue bleibt die 'Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten', die jeder vor sich, keiner schon hinter sich hat, nur Selbstbetrug.

 
 
     
Drängend


     
Sehr drängend

5
Jetzt ist das Bild des Bachs verständlicher, der

                                             Recht Gewissen bedeutend
     Der Wolken und der Seen des Gestirns

am Irrgeist scholastischer Wolken (die der Zeitgeist umhertreibt), am Ungeist der Lombardsätze (dem Stillstand in der Akkumulation) vorbeirauscht. Das Werk, das jetzt erst zu wirken beginnt, der dichterische Gedanke, in dem sich die Unvereinbarkeit der isolierten Prinzipien zu einem Dritten verbindet.
 
 
     
Bedeutend langsamer
     
(im Tempo des ersten Satzes
     
'Trauermarsch')

6
Determiniert von irdischer Landschaft folgt er dem Unveränderlichen, seinem inneren Gesetz und den Begebenheiten, die ihm begegnen und die nur zum Schein das Gepräge des Zufälligen tragen.

7
In dieser differenzierten Bestimmtheit, die das Bild vermittelt, ist der Gesang der begrifflichen Ausbreitung, ist die phänomenologische Vollständigkeit seiner Metapher dem Sauerteig der Traktate überlegen. Auch darin, daß Erkenntnis nicht angelernt und aufgenötigt wird.

8
Daß jener 'Bach' am Eigensinnigen der isolierten Erscheinung, an 'Wolken' und 'See' dann vorüber rauscht, scheint gegen die Natur zu sein. An solchen Stellen erhebt sich der Gesang über die gewöhnliche Ansicht. Raum und Zeit vertauschen die Kategorie, vermischen sich miteinander. Der Riß im Bild ist das prophetische Zeichen.






     
Etwas zurückhaltend

9
Der Bach rauscht tatsächlich vorüber. Die Stimme verhallt ungehört. Das vermittelnde Dritte bleibt für sich, geht seines Wegs. Es versagt sich der falschen, beschwichtigenden Hoffnung. Weder Wolken noch Seen, den anderen Bächen gilt seine Botschaft:

     Nein wahrhafftig, der Tag
     Bildet keine
     Menschenformen.

 
     
Tempo I subito
     
Streng im Takt

10
Nicht die tyrannische Logik der Sonne, ebensowenig die uneinsichtigen Dogmen des Mondes. Weder Kirche als Staat, noch Staat als Kirche. Assur nicht und auch nicht Aegypten. Was aber dann?
 

11
Der Gesang wird niemals müde, auf die Vereinigung der Gegensätze zu dringen, vor dem Unseligen der Feindbilder zu warnen:

                                                             denn es haben
     Wenn einer der Sonne nicht traut und von der Vaterlandserde
     Das Rauschen nicht liebt
     Unheimisch diesen die Todesgötter

Das einseitig Schiefe gehört dem Orkus an. Es ist die Gestalt des Barbarischen inmitten der Zivilisation.

                               Gut ist, das gesezt ist. Aber Eines
     Das ficht uns an. Anhang, der bringt uns fast um
                                                    heiligen Geist. Barbaren
     Auch leben, wo allein herrschet Sonne
     Und Mond.

 
     
Drängend
     
rit.

     
Langsam

12
Einseitigkeit heißt das Übel, an der die Menschheit krankt, seit Jakobs Hüfte verrenkt ist. Seither hinkt Israel rechts oder links, und darin besteht die messianische Verheißung, daß er davon erlöst, daß sein intellektuelles Gebrechen geheilt würde.

 
     
Tempo moderato (wie im ersten Teil)

13
Wenn der Dichter vom 'Menschenbild' spricht, das sich bilde, ist jenes neue gemeint, die Wiederherstellung des mythisch alten, ebenbildlichen, das 'alles bisherige schaamroth machen wird'.

 
 
     
Von hier an nicht mehr schleppen!

14
Bei dieser Arbeit ist der Dichter, während 'im Brand der Wüste' der 'Thiergeist' den Menschen beiliegt und seine Stimme wissenschaftlich 'wie ein Hund' umgeht, 'auf den Gassen' der Totenstädte, die sich den Anschein von Gärten geben. 'In Frankreich', lautet der ironische Zusatz.


     
Tempo
     
Unmerklich belebend

     
Immer noch drängend

15
     Indessen aber an meinem Schatten
     Richt' ich und Spiegel die Zinne
     Meinen Fürsten
     Die Hüfte unter dem Stern und kehr' in Hahnschrei
     Den Augenblik des Triumphs.

 
     
Plötzlich wieder bedeutend
     
langsamer
     
zart gesungen

16
'In Frankreich', wo sie über der lustigen Marseillaise das 'Vaterländische' versäumten, wo sie ein künstliches Vaterland einrichteten und darüber das kindliche vergaßen, den Glauben daran entweder für kindisch oder zum 'Aergerniß' erklärten. 'Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers' nennt er das Phänomen nach seiner Rückkehr aus Bordeaux im Sommer 1802.

 
     
Più mosso subito, aber immer noch
     
nicht so schnell wie zu Anfang

17
Kurz nach seinerAnkunft in Frankfurt, im Frühjahr 1796, entwickelt Hölderlin das philosophische Projekt, das der Gesang verwirklichen wird. Bezeichnenderweise in der Nähe Susette Gontards, der neuen Diotima, in der ihm die Schönheit nicht dunkel, wie in einem Spiegel, sondern von Angesicht zu Angesicht erschienen war.

 
     
Unmerklich drängend


     
Pesante (Plötzlich anhaltend)

18
'In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existiren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwindend zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung –'


     
Tempo I subito

19
Nachdem die Feinde der Aufklärung entmachtet, zum Teil schon aus ihren Palästen vertrieben, ins Innere der Kirchen zurückgescheucht waren, schien das Problem längst erledigt zu sein.
 

20
Der alte Offenbarungsglaube war von den Eiferern des neuen Vernunftglaubens für Aberglauben erklärt worden. Fichte, nach ihm der junge Schelling, hatte das Ich zum Prinzip aller Dinge erhoben, dergestalt, daß vom ausgehöhlten Objekt nur noch ein 'Nichtich' übriggeblieben war. Dementsprechend ist die Welt ihrer baldigen Unterjochung durch das Selbstbewußtsein des Geistes und dessen absolutes Wissen gewärtig.

 
 
     
Etwas langsamer (ohne zu
     
schleppen)

21
Wie ein Fluch hatte sich der Menschen die entsetzliche Vorstellung bemächtigt, daß der Widerstreit, die berechtigte Antinomie der Prinzipien, durch Alleinherrschaft eines einzigen aufzuheben sei.
 

22
Eben erst ausgetrieben, kehrte der dynastische, unheilig gewordene Geist in imperialer Gestalt in das gefegte Haus zurück. Der die abgelebte Herrschaft aus Gottes Hand in ihrer Schwäche gesehen, ihre Blöße aufgedeckt hatte, riß sie nun an sich, durch nichts rechtfertigt als das entfesselte Schicksal.

 
     
Nicht schleppen

23
Immerhin war das abgetane Reich republikanisch verfaßt, das Kaisertum weder durch Erbe noch Zufall, sondern durch Wahl geheiligt. In seine Farben kleideten sich, zu Recht oder nicht, die Republiken auf deutschem Boden. Die Lücke, die jene zum erblichen Gottesgnadentum verkommene Idee hinterlassen hatte, war nur durch Konstruktionen, durch noch zu erfindende Ideologien zu schließen.

 
 
 

     
Gehalten

24
Napoleon verzichtete auf die geschichtsphilosophischen Kaschierungen. Ihm genügten die Formen und Insignien des aufgelösten Gedankens. Daß Hegel ihn mit dem Weltgeist verwechselte, als er durch Jenas Straßen ritt, sagt genug. Er hatte den Zeitgeist leibhaftig gesehen, die unreflektierte Tendenz im Inneren der Systeme, die ganze Welt in sich zu verschlingen und ihren unverträglichen Gegensatz als nichtig auszuschließen, auf jede Weise zu vernichten.

 
     
Etwas drängend

     
Nicht eilen
     
Wuchtig

25
In der Gegenseitigkeit des Versuchs wird der Widerstreit, bis zum Extrem gegenseitiger Vernichtung, absolut. Diese negative Versöhnung in der Vernichtung scheint unausweichlich. Und dieser Schein blendet auch diejenigen, die ihre Augen nicht vor ihm verschließen, die seinem Schein verfallen sind, indem sie ihm entgegenarbeiten.

 
     
Etwas drängend

26
Nicht die Angst, nicht die verzweifelte Kraft, die sie ein letztes Mal freisetzt, ist jenes Rettende, das, nach Hölderlins bekanntestem Wort, in der Gefahr anwachse. Paralysiert vom Schein des Verhängten, dessen Widerschein sie ängstigt, ist sie ebenso falsch wie das fälschlich Beschwichtigende. Verblendete und Geblendete irren in der gleichen Nacht.


     
Unmerklich drängend

27
Dem abgründigen Ziel, auf das eine Geschichte zustürzt, die sich um nichts auf der Welt, auch um den Preis ihrer Rettung nicht, als ereignete Offenbarung erkennen will, entspricht ein entgegengesetztes, dessen Name zu kindlich ist, als daß er unter Verhärteten genannt werden dürfte. Deutlicher als die festgesetzten bezeichnen die ungeschriebenen Denkverbote das totalitäre Wesen einer Herrschaft.

 
     
Pesante (plötzlich etwas anhaltend)

28
'Reich Gottes!' hatte Hölderlin 1794 an Hegel geschrieben, und dieser wiederholt die Losung, mit der die Freunde auseinandergegangen waren, in einem Brief an Schelling: 'Das Reich Gottes komme, und unsre Hände seien nicht müßig im Schoße'. An die revolutionäre Begeisterung dieser Jahre erinnert sich Hegel später, ernüchtert, in der Sprache des Als-ob: 'Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus hat die Weit durchschauert, als sei es zur Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.'

 
     
Nicht schleppen (Tempo I)
     
Vorwärts (unmerklich)
     
accelerando
     
a tempo
 
 
     
Höhepunkt

29
Das rettende Wort war verschlungen, wie Jona im Fisch. Mit ihm zugleich das mythische Zeichen, das, undeutbar geworden, die wunderbare Wiederkunft des Verschlungenen andeutet. Seine unverdauliche, mißverstandene Bedeutung liegt der Vernunft im Magen, wie jener Stein, den Kronos verschlang, um seine alternde Herrschaft zu retten.





     
Ritenuto

30
So verschwand Hölderlins Gedanke in den konträren, nach rechts und links ausbrechenden Systemen Schellings und Hegels, ebenso der Gesang, soweit er nicht unterschlagen war, in den Grabkammern der philologischen Wissenschaft.

 
     
Tempo I subito Etwas langsamer als
     
zu Anfang
     
wild  Nicht eilen  Pesante

31
Hinter dem Gedanken, die alten Trennungen zu erklären, den Widerstreit zwischen Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, Vernunft und Offenbarung verschwindend zu machen, liegt, unausgesprochen, die  n e u e  S t a d t ,  zu der es keinen anderen Zugang gibt als die 'Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten'. Der Weg, den die einstigen Freunde einschlugen, gabelte sich und führte vorbei.

 
     
Nicht eilen

32
Die Akzentuierung des Subjekts beim jungen Schelling, die behauptete Identität des denkenden Subjekts mit dem Objektiven, seine Lehre vom Ich als Subjekt des Subjekts bewirkte die Volte, nach der das absolute Ich als Medium des Objektiven erschien und sich vermaß, das mythisch Offenbarte zur Sache einer positiven Philosophie zu erklären. Die Idee eines gutbürgerlichen Vernunftchristentums hat sich inzwischen verflüchtigt. Geblieben ist der diffuse Legitimationsrahmen, mit dessen Hilfe sich das prosperierende Ich seines uneingeschränkten Eigentumrechts, des Golds als offenbarter Realität versichert.




     
Nicht eilen


     
Allmählich (aber unmerklich) etwas
     
ruhiger

33
Umgekehrt Hegel, der die Verkunft vergottete und so der Selbstgewißheit Offenbarungscharakter zusprach, dessen System das 'Schöne der Erd' zu Bewußtsein verarbeitete, als bedürfe die Erscheinung zu ihrem rechtmäßigen Dasein der Objektivierung durch ein übergeordnetes, angeblich objektives Subjekt. Von da an war tyrannisches Überwissen, Ideologie in der Weit. Die divergierenden Gedanken materialisierten sich mit zunehmender Entfernung vom gemeinsamen Ausgangspunkt, entfernen sich noch voneinander und schärfen Klauen und Zähne: Leviathan und Behemoth …


     
a Tempo (molto moderato)




     
Rit. – – – poco rit.
     
Langsam
     
(folgt lange Pause)