horst janssen - bettina, gedacht























     horst janssen
     bettina, gedacht
     3. juli 1973, bleistift


SPHINXGLEICHE MUSEN

Die aber nicht liebgehabt Zevs
Denen ekelt an der Stimme
Der Geistergöttinnen, auf dem Pierion blasend
Auf der Erd, und durch das Meer, das ungemeßne
            Hölderlin, segmente aus der ersten Pythischen ode

dem lallen zum trotz: erkenntnis ist nur durch unterscheidung und entgegensetzung möglich; sie ist unmöglich in der sprachverwirrung, wo nicht vergleichbares verglichen und unverwechselbares verwechselt wird

die musen sind in zweideutiger weise herabgekommen; sie tragen namen verheirateter oder unverheirateter frauen und scheinen es Thetis oder Aphrodite gleichzutun, wenn diese, mehr zum versuch, das lager sterblicher männer teilten und, vielleicht sogar unter schmerzen, heroen gebaren; die eine den todgeweihten Achilles, die andere den trojaflüchtigen Aeneas; aber es waren jene zwischen himmel und erde vermittelnden geistergöttinnen, die menschlichen phänomenen gestalt und namen verliehen

müßig die frage, ob die dichter ihrer inneren stimme den namen der alles zuflüsternden muse beilegten, oder ob ein im geistigrealen sinn anderes Hesiod und Homer zu ihren musengesängen inspirierte; es sind die zweifel der immer ein wenig zu eingebildeten vernunft, welche den denkweg versperren; der unbefangene blick auf die dichtungen selbst genügt zur einsicht, daß die erfindung der körperlosen musen, und so auch deren erfindungen, nicht bloße fiktion, sondern intellektuelle entdeckung ist; denn erst dieses durchaus reale, den kindern der aufklärung obsolete beieinander von menschen und göttern zeigt und erklärt den unauflöslichen zusammenhang von vorher nicht benennbaren seelenkräften und taten unter waltendem schicksal; erst die geistesgegenwart der muse vereinigt also die bewußtseinsströme, die – wie Garonne und Dordogne in Hölderlins gesang 'Andenken' – an der federspitze des flüsternd schreibenden dichters zusammenfließen

in dieser mythischen analyse verkörpert die archaische titanin Thetis die sorge irdischer mütter, die schaumgeborene Aphrodite das wirkliche traumbild der liebe, der waagehaltende Zeus das alles durchherrschende prinzip der entscheidung, die kluge Athene besinnung der menschen, Ares deren fortwährende kriegsbereitschaft und der geflügelte bote Hermes oder Merkur den praktischen geist, dem Ingrid von Kruse letztlich jene scharfzeichnende Hasselblad verdankt, mit der sie – nach zwei im höchsten sinn repräsentativen portraitreihen (1) und einer zugleich hinreißend geschriebenen Venedig-physiognomie (2) – die überlebenden geliebten und modelle des künstlers festhielt; mit gewissem recht auch seine 'musen', denn selbst Horst Janssen neigte zuweilen zu dieser ansicht; so verwandelt er die fliehende und schließlich ganz verschwindende Bettina in Botticellis 'Primavera' (3), und dieses antlitz ist vielleicht portrait der Simonetta, der geliebten des im dom ermordeten Giuliano Medici, die der maler, wie der dichter Poliziano in 'Stanze per la giostra', in vielen seiner bilder zur muse des mediceischen idealismus verklärte; im übrigen verzeichnet auch der späte Hölderlin die sonst mit dem namen der Sokratischen Diotima angeredete Suzette Gontard (4) unter der gleichen chiffre (5); jene früh gestorbene Bettina aber entzog sich allem vergleich und so auch Ingrid von Kruses photographischer galerie

viel später legitimiert die herkunft der geliebten Annette (aber auch der name Reuchlins) eine der künstlerreden in der stadt Pforzheim, festgehalten in einem der geschmacklich leicht angeschmuddelten 'Gertrudenformate' (6); in den dort wiedergegebenen totentanz mischen sich anklänge an Breughels 'Kinderspiele' und an figurinen der genial gezeichneten 'Häschenschule' Fritz Koch-Gothas; Horst Janssen selber stürzt durchs bild als der von kugeln durchlöcherte hasenlehrer des blattes 'Turnstunde' (7); Annette floh, mythisch gesprochen, übers meer wie die quelle Arethusa vor den zudringlichkeiten eines niederen gotts ins hirtenland (8); vielleicht nicht nur, weil der alternde und exzentrische künstler unerträglich wurde, sondern auch, weil unter dessen zeichnender hand alles fleisch der welt verweste und alle genialische äußerung im rausch sich aufhob wie schon einmal bei Jean Paul

seltsam, daß die stadt Hamburg, an welche Horst Janssen gebannt war, wenigstens in Heinrich Heines 'Deutschland. Ein Wintermärchen', eine abwandlung des bei Hesekiel vorgebildeten und 'getümmel' bedeutenden namens 'Hamona' trägt (9); dort aber ist es die endzeitliche, von gebeinen übersäte totenlandschaft, in welcher totengräber mondelang zu tun haben, um die grauenvollen überreste der alten geschichte einzusammeln und zu begraben (10); aus diesem bedrückenden gesichtspunkt erscheint Horst Janssen in seiner bis zum äußersten ausgelebten subjektivität als empfindliche membran des im getümmel der normalität kaum wahrnehmbaren geschehens und sein nachlaß als seismographisches vorzeichen oder selbst schon beklemmend genaues abbild dessen, was der prophet namhaft machte, und nur zu verständlich, daß er in hellsichtiger verzweiflung nicht neun, sondern zwei- oder dreimal so viele 'musen' verschleißen mußte, um auszudauern in der musenferne

Ingrid von Kruse also hat den virtuosen vorzeigeblättern und jenen diarien im gertrudenformat, in welchen der zur selbstdarstellung verurteilte künstler die künstlerischen resultate jener 'lebensmäßig' notwendigen verhältnisse (11) unter die leute brachte, die 'Photo-Portraits' der indessen um ein weniges älter gewordenen frauen und kindfrauen (und der vier kinder Horst Janssens) gegenübergestellt; von den bildnissen der 'very important persons' in den großen bänden von 1988 und 1992 unterscheidet sich diese neue, mit merkurialischer umsicht und objektivierender einfühlsamkeit ausgeführte arbeit vor allem durch das andere dasein der Horst Janssen überlebenden frauen; als habe die zeit, in welcher sie der künstler zeichnete, wachend oder schlafend, vor augen oder aus dem gedächtnis, noch jetzt ihre haltung vor dem objektiv verändert, sind sie gelassener im augenblick der aufnahme; es fehlt ihnen jene unverkennbare intensität, mit der sich, in der gleichen situation, öffentliche personen des moments und der erzielten wirkung bewußt sind; das wesentlichere aber leistete die anwesenheit und das ingenium der künstlerin; im suchbild ihrer kamera blieben sie, was sie sind: frauen, in denen erinnerung ruht – nicht musenähnlich, sondern sphinxgleich wie immer

 

1 Zeit und Augenblik / Photo-Portrait, DuMont Buchverlag Köln 1988; 89 bildnisse, von Hermann Josef Abs bis Gabriele Wohmann
Europa / beim Wort genommen / 115 Portrait-Photographien, Prestel, München 1992
2 Venedig / Stimmen zwischen Stein und Meer, Hirmer Verlag, München 1996
3 'Bettina gedacht' in: Horst Janssen / Frauenbildnisse, Verlag St. Gertrude, Hamburg 1988; abb 159
4 ebd abb 216: mit dem zitat aus dem noch vor der begegnung mit Suzette Gontard entstandenen 'Fragment von Hyperion' (dritter brief): 'Ich glaube nicht, dass sie es ganz bemerkte, wie sie überhaupt bei all ihrer himmlischen Güte nicht sehr darauf zu achten schien, was um sie vorging.'; zur identität der dort erträumten gestalt 'Melite' und der frau, die den dichter, ein halbes jahr nach erscheinen des 'Fragments', zum lehrer ihrer kinder bestellen ließ vide www.hoelderlin.de / lieferbare buecher / 144 fliegende Briefe / Diotima
5 ebd unter lieferbare buecher: FHA bd 7/8, herausgegeben von D E Sattler, Stroemfeld verlag 2001, p 1001, S 284 Tende Strömfeld Simonetta…
6 Verlag St. Gertrude, Hamburg 1986
7 Die Häschenschule / Ein lustiges Bilderbuch von Fritz Joch-Gotha und Albert Sixtus, entstanden 1923, Alfred Hahn's Verlag, Hamburg; dazu Wilhelm Bricots (= D E Sattler) persiflage Die Häschenschule, Buchladen Bettina Wassmann, Bremen 1985
8 vide 144 fliegende Briefe: '116 Einwärts' und '60 Quelle', dort: 'Die Musen wohnen an den Quellen und nicht im verunreinigten, bitteren Wasser. Als Vergil die längst schal gewordene Musenbitte der alten Dichter parodiert, wählt er das Wunder der Arethusa, die sich vor den nachstellungen des griechischen Flußgotts Alpheus, durchs Meer hindurch, nach Sizilien flüchtete…'
9 Caput XXIII
10 XXXIX
11 Horst Janssen, brief vom 7. 3. 1988, in: Frauenbildnisse