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Die Häschenschule


die haeschenschule 1


cavete a fermento!


Sobald neue Werte den Markt erschüttern, enthüllt sich der restaurative Charakter des ehemals Progressiven. Es wandert aus den superioren Auslagen zum Ramsch, wo ein Publikum zugreift, das gewohnt ist, aus zweiter Hand in den Mund zu leben. Was eine kleinbürgerliche Kulturkritik ausrangiert, wird in den geschmackvoll eingerichteten Elendsquartieren des intellektuellen Proletariats vollends aufgezehrt. Daß der damit verbundene Aufstieg ein Trugschluß bleibt, dafür sorgt schon die fortwährende Diskreditierung der herabgesunkenen Werte durch jene anderthalb Etagen höher etablierte Kritik. Im windigen Zeitgeist indiziert die Phasenverschiebung, mit der bestimmte Waren allgemein zugänglich werden, den intellektualsozialen Klassenunterschied. Derselbe ist sicher größer, als jene Egalität predigende Kritik ihrem Publikum weismacht, und sicher weitaus kleiner, als sie sich insgeheim einbildet.

Das Phänomen ist an jedem beliebigen, am deutlichsten jedoch an Gegenständen zu zeigen, die jene kleinbürgerliche Welt des Scheins nochmals vollständig, im verkleinerten Maßstab enthalten. Bei der Analyse einer solchen Projektion käme heraus, was sich die notorische Kritik nicht eingestehen darf: daß sie sich spiegelt, wenn sie den Feind erkennt.

Helas! Das splendid gedruckte, unzerreißbare Inventar der guten Kinderstube von damals beherrscht heute, in grellbunten Nachdrucken, das einschlägige Sortiment der Supermärkte. Das Verhältnis ist vertrackt und nicht ohne weiteres einzusehen. Gilt weder Inhalt noch Herkunft, sondern, nach unumstößlicher Marketingdoktrin, einzig die Verbreitung eines Produkts als sein soziales Indiz, verkehren sich die von der progressiven Kinderbuchkritik behaupteten Kategorien. Die untergehende Vorstellungswelt des einstmals bourgeoisen 'Struwwelpeter', aus der das Bürgertum nach Rattenart auswanderte, ist längst proletarisch geworden, was dem Volk gehörte, dekadent. Märchen und Legenden verwandelten sich in preziösfantastische Tagträume, Kreuzzugspredigten vergangener Tage in plumpfüßige Feindbildfixierungen, Agitationen im Stil von 'Baggerführer Willibald', einer Generation auf den Leib geschneidert, deren Parteilokal der turnusmäßige Elternabend ihrer antiautoritären Kinderladenbewegung gewesen ist.

En Passant: jede Partei ist faschistisch. Die Liaison des Ewigbürgerlichen mit seinem Leit- und Schreckbild ähnelt wahrhaftig der Ehe des Ödipus. Immer zu spät kommt heraus, daß es im Kreis ging, daß es dem ängstlich Gemiedenen in die Arme lief. Bis dahin gilt Teiresias als Schwindler. Die Axt ist im Bündel verborgen. Nur die Namen wechseln, die Lüge bleibt. Ihre Ehre heißt nicht mehr Treue, sondern Solidarität; mit ihresgleichen, versteht sich. Links und rechts an den Ecken stehen sie gestikulierend, die Sadduzäer undPharisäer, vor deren Sauerteig gewarnt wird.

Die Kontinuität der Bürgerkriege, der Wahlkampagnen und Machtergreifungen, der ideologischen Gräben, die das Bürgertum aller Zeiten in zwei haßerfüllte Lager teilen, die aus dem Geist der Dummheit geborenen, stets blutig endenden Rechthabereien aufzuzeichnen, wäre Desiderat einer höheren Aufklärung, die nicht im voraus obskur ist. Gleiches leistet der Augenblick, der die immerfliehende Gestalt der bürgerlichen Geschichte im charakteristischsten Moment festhält – wenn sie die Einrichtung wechselt, wenn sie das abgewohnte Mobiliar verwirft und wurmstichiges aus der Rumpelkammer holt. Die eingewurzelte bürgerliche Schande sitzt dort am tiefsten, wo sie sich am integersten geriert: in der kleinbürgerlichen Kritik, die den kompletten Wechsel der Einrichtung veranlaßt.

Keine Realkritik verläßt den Bannkreis des Negierten; das kritisierte Mißverhältnis kontaminiert die Kritik. Wie weiter, wenn das gilt? Sollen wir die Nichtigkeit einer realen Kinderbuchkritik zum Exempel erheben? Mit was für Affenkünsten, was für Federfuchsereien und Hasenfüßigkeiten wäre zu rechnen? Es bleibt kein Ausweg. Will sie dem Pseudokritischen entgehen, muß sie fiktiv werden, muß die Metakritik ihren Gegenstand selber erfinden. Indem sie das Falsche mit dem klaren Bewußtsein seiner Falschheit wiederholt, trifft sie der Pfeil nicht, den sie versendet. Sie befreit sich vom Geist der Feindschaft, indem sie seinen Winkelzügen bis in den hintersten Winkel folgt, indem sie ihn gründlich auslernt. Sie verhält sich zu Don Quijote und zu den Windmühlenflügeln, gegen die der kritische Ritter anreitet, wie sein einfältigkluger Diener, und wenn sie gelänge, wie die milde, verklärende Ironie des Cervantes zur Narrheit der Welt.


die haeschenschule 2


I

Nichts zeigt die relative Vergeblichkeit kritischer Aufklärungsarbeit drastischer als die beträchtlichen Auflageziffern repressiv-restaurativer Kinderbücher alten Schlages und ihrer gegenwärtigen Nachahmungen. Als habe es eine emanzipatorische Pädagogik nie gegeben, weist der Gestus spätbürgerlicher Kinderbücher auf das bestehende Gesellschaftssystern als 'ens realissimum' schlechthin, werden dem Kind die Regeln einer längst hinfällig gewordnen, nur noch sich selbst konservierenden Gesellschaftsordnung eingebläut. Lustig, niedlich oder grausam – immer transportiert die Wunschwelt des bürgerlichen Kinderbuchs jenen schlecht verhohlenen Zweck: die erzieherische Absicht, die Kleinen so früh als nur irgend möglich den verhärteten, sanktionierten Formen der Erwachsenenwelt anzupassen. Das widerspricht keineswegs dem komplexen Privatinteresse ihrer Autoren, die höchst selten als kinderfreundliche Sonderlinge in Erscheinung treten, erst recht nicht den kommerziellen Maximen der Verlage. Zum einen sind Herrschaft und Kornmerz identisch, zum andern ist Heuchelei der bürgerlichen Moralität so untilgbar tief eingegraben, daß sie unmöglich zum Gegenstand selbstkritischer Bewußtheit werden kann. Wie von selbst spiegeln sich die Normen der Gesellschaft (zu welchen sich bürgerliche Autoren sonder Mühe in Rapport setzen) in den Klischees der marktgängigen Modelle. Schwärzester Hausbuchhumor demonstriert, wie jedes Vergehen, jedes Versagen bestraft wird. Stereotype Igel- und Zwergbanalitäten wiederholen das sattsam bekannte Hauswesen, gelten für Fantasie. Gesellschaftskritische Komponenten sind unvorstellbar. Das Bedrohliche erscheint nur von ferne, das Böse in lächerlicher Gestalt. Damit das Kind, neben dem obligaten Respekt vor Autoritätspersonen, frühzeitig das Mitfüßentreten lernt, mangelt es nie an läppischen und täppischen Randfiguren, denen ähnlich zu werden, sich zu traumatischer Angst vertiefen muß.


II

Die illusionistische Verklärung des bürgerlichen Milieus, konformierende Tendenzen sind noch im allerkindgemäßesten Kinderbuch bürgerlicher Prägung nachzuweisen. Ausgewählt wurde das im deutschen Sprachraum ungemein verbreitete Bilderbuch 'Die Häschenschule / Ein lustiges Kinderbuch von Fritz Koch Gotha', das erstmals 1923 erschien und seither auf dem Kinderbuchmarkt die Rolle eines Markenartikels innehat, für den zu werben überflüssig wurde. Doch gab dieses Argument nicht den Ausschlag.

Anders als beim sadistischen 'Struwwelpeter' Heinrich Hoffmanns von 1848, anders auch als in der 'Bubengeschichte' des bismarckisch gesonnenen, antisozialistischen, antiklerikalen und gedämpft antisemitischen Wilhelm Busch (der, nachdem er sich streichelang an der Verlassenheit der Waisen Max und Moritz delektierte, zu guter Letzt sich seiner Protagonisten, als eines Störfaktors im Dorfe, entledigt), und anders auch als bei jenen nur noch auf niedlich getrimmten Heinzelgeschichten nach
Art von 'Hänschen im Blaubeerenwald', halten sich hier die Hauptkomponenten des spätbürgerlichen Kinderbuchs – Lustigkeit, Anständigkeit und Lehrhaftigkeit, sorgfältig ausgemaltes Milieu und unüberhörbare Tendenz – geradezu auffällig die Waage. Vorurteilsfrei betrachtet liegen die gediegen karikierenden Illustrationen, wie auch die adäquat gereimten Texte, beträchtlich über dem Normalnull des üblichen Niveaus. Sicher begründete die Qualität und die Harmonie der Mittel den außerordentlichen Erfolg des Bilderbuchs, dem es keineswegs geschadet hat, daß die minutiös wiedergegebene, nebenbei leise verspottete, Dorfschulrealität der wilhelminischen und nachwilhelminischen Ära inzwischen längst unwirklich geworden ist. Vermutlich rechnen die Kinder, zwischen zwei Fernsehsendungen die 'Häschenschule' durchblätternd, das ihnen nicht ganz Verständliche der im Titel eigens angekündigten Lustigkeit zu. Deren Effekt muß um so gröber werden, je mehr sich die subtilen Details der Häschenidylle dem Wirklichkeitsvergleich entziehen; zuletzt bliebe nur noch der belanglose Witz, daß Tiere sich wie Menschen gebärden, wäre den Blättern nicht eine verniedlichte, nichtsdestoweniger grausame Wahrheit eingezeichnet – die allgegenwärtige Bedrohung, von der Kinder eine schreckliche Ahnung haben, und deren verhüllten Vorzeichen sie kaum nachzufragen wagen. Die sticht, auch wenn sich schließlich alle Realbezüge verflüchtigen sollten, durch alle Kinderbuchbeschönigung hindurch.


III

Verdunkeln sich die zeitgenössischen Bezüge eines Kinderbuchs allmählich, ist zunächst zu fragen, worin die historische Manipulation bestand, und erst danach, welchen Suggestionen die 'Häschenschule' die Anhänglichkeit der gegenwärtigen Leserschaft verdankt.

Der Illustrator Fritz Koch-Gotha, auf dem Titel einen Schriftgrad größer als der Autor der Verse gedruckt, hat seine Bilder keineswegs frei erfunden. 1877 in dem thüringischen Nest Eberstädt bei Gotha geboren und aufgewachsen, hat er, wohl aus den dargestellten Verhältnissen stammend, in Berlin eine ansehnliche Karriere als Zeichner gemacht. Seine Textvignetten ähneln denen des 'Zupfgeigenhansl' und signalisieren, schon auf dem Innentitel, eine dem Publikum bestens vertraute Gesinnung. Der Informationsgehalt solcher Notizen darf nicht unterschätzt werden; mußte doch die Szenerie – das liebliche, dem Thüringer Wald vorgelagerte Hügelland –, von der inflations- und putscherschütterten Metropole aus gesehen, wie ein verlorenes Arkadien wirken. Familie Hase ist Selbstversorger; die zeitgemäß vegetarische Kost entstammt dem eigenen, naturgedüngten Garten. Vater Hase, dem Habit nach gar Förster, speist mittags, wie selbstverständlich, daheim. Das letzte Bild zeigt dieses Glück im kaum überbietbaren Tableau – eine gesundbescheidene Kleinbürgerfamilie beim Essen. Die Requisiten verraten den Status: die klobigen Küchenstühle, am runden, immerhin mit weißem Tischtuch bedeckten, nicht in der Küche, sondern im Wohnzimmer gedeckte Tisch, der Anderthalbliterhumpen vor Vater Hase, die bunten, nimmermehr handgemalten Teller, die riesige Emailschüssel, welche Mutter Hase sogleich in die Mitte setzen wird, die Deckelpfeifen und die stockfleckigen, ovalen Familienbilder an der muffig tapezierten Wand.

Der Schlußsatz enthüllt denn auch den sentimentalen, kaum merklich ironisierten Wunsch nach sozialer Rückstufung, nach Regression; aus dem 'Dickicht der Städte' (Brechts Stück wurde im Erscheinungsjahr der 'Häschenschule' uraufgeführt), den infernalischen Positionskämpfen heimzukehren ins kleine Verhältnis:

Wär' ich nicht ein Kindelein,
Möcht ich gleich ein Häschen sein.

Der ausgewachsne Kleinbürger ist über jene kindliche Ausrede hinaus; sie würde auch nichts fruchten. Seine Hasennatur ist evident, bezeugt schon von jenem langohrigen Eingeständnis, mit welchem er sich verschreckt in die Furche duckt: 'Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.'
Das in Bewegung geratene, auf Hauptstraßen und Paradeplätzen aufmarschierende Kleinbürgertum war sich selbst ein wenig unheimlich geworden.


IV

Der Zeichner Koch-Gotha bildet zwar eine Wirklichkeit ab, deren Relikte erst in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts verschwanden, doch meint er den Lehrer und die Schulbänke seiner Kindheit, nicht jene von 1923; insofern trägt seine Projektion tatsächlich restaurative Züge. Doch ist der durch Erinnerung erzeugte Effekt nur vordergründig ein Indiz des Konservativen. Der oft bemerkten Verzögerung, mit welcher Kinderbücher auf zeitgeschichtliche Bewegungen reagieren, liegt ein durchgängig individuelles Phänomen zugrunde: Verklärung der Kindheit als Reaktion auf das heraufdämmernde Bewußtsein des Absterbens, auf den halbwegs wahrgenommenen 'Rake's Progress' des Erwachsenen. Ist die innere Zersetzung weit genug fortgeschritten, steht der Kommerzialisierung des nun erst unwiderruflich verlorenen Paradieses nichts mehr im Wege. Eben weil sich in ihnen ein allgemeines, zugleich geheimgehaltenes Lebensgefühl prostituiert, verfehlen jene verklärenden Kindheitserinnerungen nur selten ihren realen, aus der Sicht des sich aufgebenden Individuums jedoch nur abseitigen Zweck. Im dunklen Wissen um die eingetretene Entfremdung vom Kindsein, im Versuch diesen Zustand der Verhärtung und Verformung aus eigener Kraft
wieder aufzuheben, berührt sich eine subjektiv-existentielle Anstrengung mit der objektiv historischen, zu deren Zeugen das Marxsche Theorem und seine Ausbreitung, als ein Moment der augenscheinlichen Apokalypse gehörte. In den verniedlichten, verkauften und käuflich gewordenen Wunschbildern des bürgerlichen Kinderbuchs entsteht jedoch der entgegengesetzte Effekt. Das notwendig Vergangene erhält sich am Leben, als sei sein Vergehen ein Defekt, der durch Beschwörung des Gestrigen zu heilen wäre, als sei die irgendwann versäumte Konservierung der Welt auf Kindheitsniveau irgendwann einmal, in einer Revolution unter umgekehrten Vorzeichen, nachzuholen. Nachdem auch die entlegensten Feldwege asphaltiert sind, nachdem die untertan gemachte Wildnis dahinsiecht, steigert sich der desiderate Gehalt jener gestrigen Idylle zu einer rückwärts gewandten Utopie von unwiderstehlicher Wucht.

Die geheimen, bislang nur vereinzelt geäußerten Regressionswünsche schicken sich an, ins Reich der Notwendigkeit einzubrechen, dessen Gesetze der Progress, als unumschränkter Gewaltherr diktierte. Solange seine Diktatur ungefährdet schien, zierte das Gegenläufige mehr als es störte. Erst in der Krise des Fortschritts wird die Idylle gefährlich, wird selbst die 'Häschenschule ' zur Fibel der Subversion. Vorwärts oder rückwärts – ist das die Frage?


V

Wohin, wenn nicht vorwärts?

Natürlich technisch. Zerbricht die alte Natur, entsteht eine neue. Die Hasenwelt ist passé. Höchste Zeit, von ihr Abschied zu nehmen.

Die Einfalt ist unwiderruflich hin, der Schönwetterhimmel der 'Häschenschule' falsch geworden, sein Blau im wahrsten Sinne des Sprichworts aus dem Schwefeldunst des dröhnenden Zeitalter herabgelogen, vorbei die Zeit der ungesäuerten Brote. Was soll uns noch die wunschlos glückliche Kleinbürgerfamilie in ihrer unterzivilisierten Ideallandschaft?

Anders der Fuchs. Elegant gekleidet, mit dem Dolch der Legende und dem Flair des Wüstlings, ist er gewiß Berliner. Die übertrieben lange Feder an seinem Tirolerhut passt zur Rolle des Entfremdeten so unübertrefflich, wie Stockschirm und Melone zu der des Dorfschullehrers.


VI

Schon immer war das tierische Gegenbild, zu Spott oder Schimpf – zur Widerspiegelung des allzumenschlich Unmenschlichen – unentbehrlich. Die Tierphysiognomie enthüllt, was die kollektiv anerzognen Umgangsformen verbergen. In den Hofparteien des 'Reineke Fuchs', abzulesen noch in Kaulbachs akademischen Illustrationen, sind nicht nur die verschiedenen menschlichen Konstitutionen Form geworden, sondern rückhaltlos auch das Zerrbild des Menschen als Ungeheuer. Darin liegt die latente SatireveritaS, die hervorbricht, sobald das Tierbild in sozialer Konstellation erscheint. Nicht umsonst verbarg sich frühere Aufklärung über den wahren Ausdruck der Mienen und Gebärden, über den triebhaften Hintergrund ehrenwerter Maximen im Pelz- und Federkleid der Fabel.

Was in den Tier- und Zwergwelten der Bilderbücher davon übrigbleibt, ist wenig. Anstatt die leere Konvention, das verdeckte Interesse im Alltag der alten Klassengesellschaft zur schmerzenden Pointe zuzuspitzen, nivelliert die verniedlichende Hyperbel den satirischen Stoff; die durchgängige Metapher überzieht die sozialen Dissonanzen, wo sie ins Bild geraten, mit einer auf billige Weise ausgleichenden Lasur.

Wer nimmt schon daran Anstoß, daß 'Hasenmax, der Bösewicht' als einziger einen Flicken auf der Hose hat? Freilich konnte er 'sein Verschen nicht'; dafür hat er, sein Versagen kompensierend,

gepfiffen und geschwätzt,
Hasenlieschens Rock zerfetzt,
eine neue Bank zerkracht
und dabei noch laut gelacht.

Wie auf dem Titelbild deutlich zu sehen, ist der soziale Defekt schon unheilbar. Weder das Ohrenziehen hilft, bei welchem der Verhaltensgestörte seinen Schmerz, offensichtlich, um ihn abzukürzen, übertrieben zur Schau stellt, noch läßt der Distelkarzer, in welchem er mit angelegten Ohren ein wenig 'Buße' tut, auf Besserung hoffen. Bei der stereotypen Ermahnung, die dem Missetäter, nach der Züchtigung, wie stets, vergeblich Einkehr und Umkehr einredet, blickt der kleine Sünder zwar pflichtschuldig unter sich, doch grient er, vom Lehrer unbemerkt, seitwärts hin zu seinem artigen Publikum.

Nachdem die körperliche Züchtigung in der Schule verboten und wenigstens bei nichtbürgerlichen Eltern verpönt ist, bilden sich neue Züchtigungs- und Selektionsformen, und auch die Aussortierten tragen ihren bitteren Hohn darüber, ihre Verachtung der bürgerlichen Jagd- und Hegegesellschaft in immer neuen Narren- und Bettelkleidern zur Schau.

Daß den Letzten die Hunde bissen, gegen diesen nur bürgerlicher Logik einleuchtenden Satz war zwar, mit der dialektisch begründeten, historisch beinah bewiesenen Theorie der klassenlosen Gesellschaft, ein kräftig Kräutlein gewachsen, doch will das, merkwürdigerweise, ausgerechnet den Hasen nicht schmecken. Viel lieber integriert die bürgerliche Boulevardgesellschaft ihren asozialen Bodensatz, indem sie Türen und Fenster vor ihm verschließt, indem sie sich, aus sicherer Distanz, vor seinen Gebrechen ekelt, an seinen Verrenkungen gehörig ergötzt, indem sie ihn mit spitzen Fingern untersucht.

Deswegen verkörpert 'Hasenmax' gar nicht das Böse, sondern nur das Schlechtere, vor dessen schmutziger Folie sich bürgerliche Wohlerzogenheit nur um so anziehender abhebt. Ebenso verhält es sich mit der 'kleinen Gretel', die, schon gesichtslos, von hinten konterfeit und hypnotisiert vom Schaubild des Fuchses, als dessen deklarierte Beute erscheint. So auch mit jenem trullenhaften Mädchen, dem das ungefärbte Osterei zerbricht:

Wer's nicht kann, der darf auf Erden
nie ein Osterhase werden.

Nicht auszuschließen, daß sich Sixtus und Koch-Gotha hier über diese oder jene Form diesseitiger Geistesbeglückung mokierten, sicher jedoch, daß sie mit den drei exakt gezeichneten Hasenkindern eine konzise Phänomenologie gesellschaftlicher Inferiorität gegeben haben.

War Ironie im Spiel, so bleibt sie doch unwahrnehmbar, und die Genauigkeit der Schilderung, die kritisch hätte sein können, wirkt nun, nach Subtraktion der Kritik, nur noch affirmativ, mit der Tendenz und nicht gegen den Zeitgeist, der das Verhängnis heraufführte. Die Normalität der Idylle, die Apologeten der 'Häschenschule' ins Feld führen könnten, ihre überaus gekonnt zur Schau gestellte Unschuld, ist nicht etwa Indiz für die Abwesenheit zeitgenössischer Ideologie, sondern der sicherste Beweis für ihre allesvergiftende Präsenz.

Meint man wirklich, der Häschenspaß liege fernab vom kleinbürgerlichen Dünkel, fernab der Proklamation rassischer Überlegenheit, fernab vom pseudoreligiösen Erwähltheitswahn, nur weil das heraushängende Schnupftuch des Lehrers, die Art, wie er beim Abfragen seinen Spitzbauch auf der vordersten Schulbank abstützt, die ganze Aufmerksamkeit gefangen nimmt? Die wahren Abweichungen vom menschlichen Maß liegen weniger im Skurrilen, das, so absonderlich immer, wenigstens liebenswert bleibt, sondern in den Normen des Alltags, die sich, als Harmloses getarnt, in Kinderbuchmanier, unerkannt und unkritisiert, ins kindliche Weltbild einschleichen. Hier zerreißt die Parabel nicht den Schleier, wie in der kritischen Fabel, hier malt sie ihn in den schillerndsten Farben.


Vll

Niemals ist dem bürgerlichen Bewußtsein eine innere Bedrohung gewärtig. Stets denkt es das Unglück bringende Böse als etwas, das von außen in seine Ordnungen einbricht, und, wo äußere Feinde fehlen, spaltet es sich und wütet gegen sich selbst: roter Terror gegen weißen oder schwarzen und umgekehrt. In der 'Häschenschule' hat diese Gefahr zwei Gesichter – das eines hetzenden und treffenden Schicksals, dem kaum zu entrinnen ist, und das einer versuchenden List seitab vom Weg, welcher das Hasenmädchen, der Hasenjunge fast schuldhaft verfällt. Der ersten, quasimilitärischen Gewalt ist das Recht über Leben und Tod ein für allemale verliehen; jene zweite Gefahr geht vom Artfremden, interpoliert auf die intellektuelle Struktur, vom Entarteten aus. Nicht bieder nach Primus- und Osterhasenehren strebend, auch nicht mit der Befugnis zu töten, wie der Jäger, trachtet der Fuchs, klüger als alle, berechnend nach seinem Vorteil. Kein Mitleid mit seinem Wimmern, mahnt der Lehrer, es ist nur Verstellung! Im Gefolge einer exzessiven Nietzsche-Verehrung war Mitleid zur undeutschesten aller Tugenden erldärt worden. In der Warnung

Hat der Rotfuchs euch am Kragen,
hilft kein Betteln, hilft kein Klagen

könnte ebensogut das Wort 'Jude' stehen. So und nicht anders ist 'Shylock', den mitlesenden Eltern viel geläufiger, Gustav Freytags 'Veitl Itzig' gezeichnet. Der besondere Nachdruck, mit dem, auch in den aufgeschlagenen Lesebüchern, vom 'Rotfuchs' die Rede ist, weist jedoch noch auf die andere, damals immer mit Judenhaß gekoppelte Kommunistenfurcht. Rassistisches und ideologisches Ressentiment, verknüpft mit der hergebrachten Genieangst, scheinen essentiell der mittelständischen Kollektivpsyche anzugehören. Einmal entbrennt die kleinbürgerliche Wut, wenn sie sich im Eigensten, in nächster Nähe vom Fremden überrundet sieht, zum anderen fröstelt ihr bei der Vorstellung, einmal Eingeübtes könnte ungültig werden; sie fürchtet das Neue nur darum, weil es gelernt werden müßte. So gesehen sind Judenhaß und Kommunistenfurcht des deutschen Kleinbürgers nur vordergründig vom sachlichen Inhalt seiner Feindbilder provoziert. Sie sind Symptome einer intellektuell wie sozial fortgeerbten Debilität, deren Phobien auf beliebige Gegenstände zu lenken sind. Die Diskrepanz zwischen. verschwiegenem Anspruch und intellektueller Schwäche macht ihn anfällig für Einflüsterungen, die seinen Wert auf Kosten anderer erhöhen, für jede, noch die primitivste Propaganda. Nicht aufgepeitscht, verharrt er in einer ans Pathologische grenzenden Apathie. Wird den verelendeten Kleinbürgern der Spiegel vorgehalten, gilt nichts Menschliches mehr. Wer das tut, muß weg.

Im übrigen verlegt sich unser Hase aufs sturängstliche Beharren, als sei die Gefahr durch Mobilisierung seiner Schwäche zu bannen. Er stellt sich tot, um nicht fliehen zu müssen.

Genau das haben die Hasen zu lernen: Ruhe und die Hauptverkehrsordnung für ausgetretne Wege:

                             stillgeschwiegen!
Nicht vom Wege seitwärts springen!
Nicht in dichte Büsche dringen!

Demgegenüber weckt die wirkliche, weitaus schlimmere Bedrohung des Kesseltreibens, das die jungen Hasen reihenweise nebeneinander streckt, keine negative Emotion. Die Verlogenheit, mit der die Kinderbuchautoren den ins Hasensein Verstrickten das Überleben als drillfähige Soldatentugend anpreisen, teilt sich noch der gequält humorigen Wendung mit, die den Sinn jener 'allerletzten Stunde' erläutert, der Tumstunde nämlich, in der, zwischen zwei Graben-und Bombenkriegen, die Hasenkinder üben (der Dorfschulveteran war noch bei Vionville und Mars-la-Tour dabei), durch 'flinkes Hakenschlagen' dem Hetzhund ''ne Nase' zu drehen –

wenn im Winter durch den Wald
laut des Jägers Büchse knallt.

Mit Judentum und Bolschewismus wird man schon fertig werden, sobald die niedlichen Häschen Koppel und Stiefel tragen, wenn sie in der Winternacht der Vernichtungskriege zu unbesiegbaren Werwölfen herangewachsen sind. Der Heldentod ist dabei eingeplant, als sei das Unvermeidliche, das unfreiwillig Herbeigeführte ein frischfröhliches Spiel, dem immerhin einige entkommen.

Die hysterische Xenophobie macht den Kleinbürger blind für das Verhängnis, das in ihm selbst anschwillt (nach jeder Katastrophe unkenntlich verwandelt aufs Neue), und schließlich blind für irgend ein kollektives Ende.

Im voraus gerettet sollen sich die kleinen Leser mit den unbekümmert ihr Hasenlied singenden Hasenkindern identifizieren. Freilich müssen sie dazu vergessen, daß sie schon am nächsten Sonntag ein Stückchen von sich selbst, erschossen, abgezogen und gebraten, bei Tisch verzehren könnten. Wie grausam die vorgebliche Musterwelt das kannibalische Selbstopfer fordert, muß ihnen verborgen bleiben. Sie lernen, wie die Hasen, mit offenen Augen zu schlafen.


Vlll

Wie der hunderttausendmal vorgeführte Schulfilm 'Besuch der Landmaus bei der Stadtmaus', wirken die Dioramen der 'Häschenschule ' so lebensecht und sittenkonform, wie die im abgelegensten Hinterwald angesiedelten Schabbach-Serien, deren bescheidenes, hellsichtig gezeichnetes Milieu noch dem letzten zum Kleinbürgertum konvertierten Proletarier ein Gefühl von Herablassung gestattet. Denn anders als beim grauslichschönen upperclass-Spektakel, bei welchen, wegen der ausgemachten Perfidie und Künstlichkeit jener Clan-Welten, auch der gebildetere Hase in die Voyeur-Rolle gezwungen wird, befriedigen die unterstandardisierten Guckkastenbilder das kleinbürgerliche Überlegenheitsbedürfnis. Hier spielt er mit. Das niedere Klischee bezeugt ihm den Aufstieg, die stattgefundene Meliorisation. Wer nicht obenhin sagen will: klein aber fein, gedenkt der langen Ohren und weiß sich gerettet.

Daß dieses rudimentäre, wohligblinde Unterscheidungsvermögen für jede erdenkliche Hasenkarriere ausreicht, ist die weniger witzige, unabänderliche und unaufhaltsame Wahrheit.

Was der kritischen Theorie vom Negierten widerfährt, die Einsicht in ihre Vergeblichkeit, ist ihr positiver Beweis. Erst im Sturz entreißt sie dem harmlosen Augenschein das wahre Ausmaß seiner Gewalt.

Was sich wie Windmühlen dreht, sind stets verzauberte Riesen. Don Quijote hätte nicht weiterreiten dürfen, denn stets triumphiert die Beharrlichkeit besseren Wissens über die Macht der Gewohnheit.


Genug damit. Verbergen wir den verspäteten Nachruf vor Kindern und Hochschullehrern im allerhintersten Winkel von Bettinas Buchladen.