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Der Rosse Leib war der Geist
Anmerkungen zur Schlußpassage des Entwurfs DAS NÄCHSTE BESTE
1972



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Der Entwurf DAS NÄCHSTE BESTE endet in der letzten Niederschrift mit drei elliptisch gefügten Vergleichen, denen ein fragmentarischer Satz vorausgeht. Wegen dieser doppelten Unvollständigkeit wirkte die Passage syntaktisch unausgeformt und konnte nur durch Aufnahme gestrichener Segmente als Lesetext etabliert werden. Bei Betrachtung der rhetorischen Struktur zeigt sich jedoch eine Möglichkeit, den Text ohne Konjektur zu lesen. Ellipsen sind in ihrer Normalform von einem Leitsatz abhängig. Gemäß dieser Mechanik könnten die fehlenden Satzteile des Satzfragments 'Fast, unrein, hatt sehn lassen und das Eingeweid der Erde…' die Auflösung der jetzt kaum verständlichen Konstruktion vorenthalten. Der Text im unteren Drittel von Seite 74 des Homburger Folioheftes bestätigt und widerlegt diese Vermutung auf überraschende Weise. Am linken Seitenrand steht ein bisher noch nicht gelesener Satz: 'Der Rosse Leib war der Geist.' Das Problem seiner Textintegration ist Gegenstand dieses Beitrags.


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satzprobe


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Der Text einer früheren Niederschrift ist in normaler, die hier analysierte spätere Stufe des Entwurfs in stärkerer Type wiedergegeben. Gestrichenes steht kursiv in Klammern; Textsegmente, die ohne Streichung getilgt sein könnten, sind kursiv ohne Klammern gesetzt. Ergänzungen innerhalb eines Wortes wurden in Schrägstrichen eingefügt und unergänzt gebliebene Auslassungen durch leere eckige Klammern angezeigt. Durch diese typographischen Qualifikationen erscheint die letzte Intention in gerader, halbfetter Schrift. Mit solchen editorischen Unterscheidungen ist ein Risiko verbunden, das leicht zu umgehen wäre – doch litte die angestrebte Transparenz des genetisch varianten Textes unter einem unterschiedslosen Abdruck ebenso wie bei der Separierung der Fassungen von den Lesarten. Die Interrogationen an zweifelhaften Stellen bezeichnen deutlich, daß es hier nicht um die Konstitution des Textes, sondern um die prägnanteste Methode geht, die komplexe Handschrift zu differenzieren. Der Faksimiledruck der Handschrift gestattet in den meisten Fällen eine Überprüfung des editorischen Vorschlags. Ohnehin ist wahrhafter Philologie das Gedruckte nur Behelf. Anzumerken noch, daß der Manuskriptdruck eines Textausschnitts nicht als Modell künftiger Editionen gewertet werden darf. Solche Modelle an vollständigen und umfangreicheren Texten zu erproben, wäre Aufgabe einer systematischer Forschungsarbeit auf breiterer Basis.


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Oft genug ist die richtige Lesung eines schwierigen Textes Funktion der erkannten Bedeutung. Daraus ist die paradoxe Maxime abzuleiten, nur die notwendig subjektive Einsicht in der Sinn eines Textes rechtfertige den Versuch einer objektiv gültigen Edition. Die Problematik der vorliegenden Passage macht diese Aporie beispielhaft sichtbar. Während die puristische Forderung, den Text deskriptiv nach dem linearen Befund zu edieren, auf Erkenntnis des Zusammenhangs verzichtet und bloß tastet, wie Zweifelhaftes zu entziffern oder einzugliedern sei, bleibt die postulierte Einsicht häufig nur ein selbsttrügerisch eingelöstes Desiderat. Wie leicht Tiefsinn einen selbst belüge, sagt Klopstock einem Jüngling, dessen Stimme er im 'deutschen Eichenhaine' vernahm: unbrzweifelt sei jener ein 'blauer Balg'. (1) Doch ist die Gefahr zu irren nur der eine negative Aspekt der Erklärung; der andere resultiert aus der Unangemessenheit normalsprachlicher Übersetzung vor den nicht umsonst chiffrierten Inhalten des Gedichts. Hölderlin dachte zwischen dem 'Krystall' und den Lesenden keine Exegeten. Allein die Tatsache, daß die Bedingungen zum Verständnis erst freigelegt werden müssen, spricht für die Publikation philologischer Erkenntnis. Analog zu Hölderlins Diktum, die 'Mythe' sei 'überall beweisbarer' darzustellen, (2) fände Philologie ihr 'Maas' darin, das Gedichtete durchschaubar zu machen, ohne den Folgenden um eigenes Erkennen zu bringen. Demzufolge wäre der philologische Spielraum zweiseitig von kryptischer Unverständlichkeit oder Willkür und entmündigender Erklärung eingegrenzt, unabhängig davon, ob die Vorschläge und Hinweise jeweils falsch oder richtig sind. Diesen axiomatischen Imperativ befolgt diese Analyse. Das Fehlen zwingender Argumentationsketten wäre kein Makel, wenn dem Leser der Beweis gelänge.

(1) DER GENÜGSAME; Werke Bd. 2, Lepzig 1798, S. 255
(2) ANMERKUNGEN ZUR ANTIGONAE; St.A. 5 S. 268


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'Gehn mags (also) nun.' Ähnlich entbindet der Engel den Daniel von der Wirklichkeit seiner Gesichte: 'Du aber, Daniel, gehe hin, bis das Ende komme, und ruhe.' (1) Gleichgültig, ob der Seher beiseite geht, oder ob die im Gang der Gebirge räumlich erschaute Zeit sich unzerreißbar erfüllt, die Ruhe des idealisch auflösenden (2) Bewußtseins bleibt dieselbe. Jener Satz, der möglicherweise Ziel und Bedeutung des 'Erde' und 'Tale' teilenden Gebirges deutlicher nennen sollte, brach ab. Wohin dies alles führt, muß der Ahnung überlassen bleiben.

(1) Dan. 12,13
(2) DAS WERDEN IM VERGEHEN; St.A. 4,1 S. 238f.


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'Fast, unrein, /hatt/ sehn lassen und das Eingeweid (der Erde)'. Schon in der fragmentarischen Gestalt erkennbar, blickt die erste Satzhälfte zur geomophen Metapher zurück; die zweite deutet die Mimese als augurium terrestrum und leitet damit zum nächsten Satz über. Zu Beginn dieser natürlichen Periode hatte Hölderlin angekündigt, er wolle nicht mehr wie 'sonst, in Zeiten des Geheimnisses, als von Natur' sagen. Das Gedicht steht in einer Cäsur der Zeit und markiert die Wende. Wie die Verwirklichung dieser Intention dem Gesetz des poetischen Geistes widerstreite, wird jetzt erwogen. Die reißende Tendenz des Tragischen muß unter der Oberfläche der natürlichen Signatur verborgen bleiben: die Durchbrechung des Prinzips bewirke Unreinigkeit. Geht das Werk vom Heiligen aus, wie ein kühnes Bekenntnis ad eo ipso lautet, (1) sind ästhetische Urteile Blasphemie und wendeten sich gegen den Sprechenden. Nur der von tragischer Strömung Ergriffene, der Leidende, darf 'gegenredend' das Himmlische verwunden, nicht jedoch der Betrachtende. Wohl darum fehlt dem Satz das Subjekt, dessen Lästerung nicht vergeben würde, auch darum wird er vielleicht mit der nachdrücklichen Streichung von 'der Erde' getilgt.

(1) BR. 39; St.A. 2,1 S. 326


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'Der Rosse Leib war der Geist.' Für eine zusätzliche Angliederung des Satzes gibt es keinen Anhaltspunkt; er müßte an die Stelle des vorherigen treten. Das im Zug der Gebirge sichtbar nach außen gekehrte 'Eingeweid der Erde' ist in den Leib von Rossen verwandelt. Die natürlichen Zeichen und der ihnen innewohnende Geist sind identisch. An dieser Gleichung ist keine Unähnlichkeit denkbar. Sie widerruft kathartisch das falsche Wort 'unrein'. Daß der Satz für den Text disponiert und keine zufällig dort stehende Notiz sei, belegt die nachträgliche Großschreibung von 'War': sie bezeichnet die Versbrechung.


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'Bei Ilion aber auch (schien) (War auch) das Licht der Adler. (herein.)' Der letzten Gestalt des Satzes gehen zwei Versuche voraus. Zunächst schreibt Hölderlin: 'Bei Ilion aber / War auch das Licht der Adler.' Das als Wiederholung mißfallende 'War auch' wird in der zweiten Version durch 'auch schien … herein' ersetzt. Vermutlich erst nach Niederschrift des neuen Satzes erhält das Bild seine elliptische Form: 'Bei Ilion aber auch / Das Licht der Adler.' Die Heimkehr der 'Staaren' aus den 'Gärten' der 'Gasgone' und von den asphodelischen Wiesen der 'Charente' war ein augurium volatilum, zugleich aber auch die positive Umschreibung des bitteren Spruches, die Zugvögel wüßten ihre Zeit, aber Israel fehle das rechte Gewissen. (1) Vor Ilion kündigt der Adler von rechts oder links anfliegend Glück oder Unglück an. Hektor verwirft das Zeichen als zufällig, weil es Mißlingen andeutet. (2) Das Paradigma dieser Situation wiederholt Hölderlin im Gesang AN DIE MADONNA. (3) Priamos dagegen wird ein erwünschtes Zeichen gesendet. Der Adler kommt gerufen und 'Wonne' über das Wunder 'durchglühete allen die Herzen'. (4)

(1) Jer. 8,7
(2) Xll, 199-243
(3) St.A. 2,1 S. 213f.,84-93
(4) XXlV, 287-321


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'Aber in der Mitte der Himmel der Gesänge.' Ob diese Ellipse sich ursprünglich auf das 'War auch' des Ilionsatzes bezog, ist kaum zu bejahen. Dann müßte auch der letzte Satz 'Neben aber, am Ufer zorniger Greise' mit 'schien … herein' gebildet werden können. Aber noch ein zweiter Grund spricht gegen die Hypothese, der Ilionsatz ergänze die beiden folgenden Ellipsen: im Gegensatz zum werkinternen Präteritum des Satzes 'Der Rosse Leib war der Geist' ist die Zeitform von 'Bei Ilion aber war auch das Licht der Adler' historische Vergangenheit, die Hölderlin offensichtlich nicht auf den tritonischen Vergleich übertragen wollte. Nur in der werkinternen Vergangenheit des Gedichts ist das räumliche Bezugsystem ohne metaphorische Anstrengung in die Zeit zu projizieren. Vermittelt durch den Satz 'Gehn mags nun' weist 'der Rosse Leib' auf die zunächst liegende Gebirgmetapher zurück. 'Aber in der Mitte' des Gedichts war 'der Himmel der Gesänge' Medium und zugleich Gegenstand der Darstellung. Dort sahen die Vögel von 'fern' den dreifachen Himmel und atmeten den 'Othem der Gesänge'. Fast glaubt man jenen zu erkennen, den Herder in seinem Adrastea-Aufsatz über Swedenborg als Beispiel für die 'constabilierten Harmonien' eines isolierten, sozusagen in hohen Schlaf gefallenen Gemüts zitiert. (1)

(1) Vl. Stück, Leipzig 1803, S. 369-71, cf. De coelo et ejus mirabilibus et de inferno ex auditis et visis, § 210


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'Neben aber, am Ufer zorniger Greise, der Entscheidung nemlich, die alle drei unser sind.' Dem Leib der Rosse (den 'Licht der Adler' als ein augurischer Präzedenzfall rechtfertigt und erklärt) und dem 'Himmel der Gesänge' korrespondiert streng genommen nur der erste Satzteil; die beiden nachgestellten Relationen wirken auf die beiden anderen Vergleiche zurück und klammern die drei Vorstellungsarten zur tritonischen Monade zusammen. Jetzt erst ist die ingeniöse elliptische Konstruktion aufzulösen: den Bildern fehlte nicht nur das Tempus, sondern auch das wahre Subjekt – 'der Geist'. Was das 'Ufer' der 'Greise' bedeute, erklärt die schon genannte Daniel-Stelle (1), ihren Zorn der zentrisch kreisende Satz in WENN ABER DIE HIMMLISCHEN… (2): dem Gott der Freude decken die 'Prophetischen den Abgrund zu'. Auf ihnen liegt die Bürde des schreckenden Worts. 'Greise' heißen sie vielleicht in Anlehnung an einen Jesaia-Satz, auf den die Variante 'wo allein herrschet Sonne und Mond' (3) hinweisen könnte. 'Sonne und Mond werden sich schämen, wenn der König herrschen wird über den Berg Zion inmitten von Jerusalem und vor seinen Ältesten' ringsherum 'in der Herrlichkeit.' (4) Der heroische Eingang und der heroische Einschub in der zweiten Partie des Gedichts sind der poetische Ort solchen Sprechens. Dort ist das Wort änigmatisch mit dem vesten Buchstaben der prophetischen Schriften verknüpft.

(1) cf. 5, Anm. 1
(2) St.A. 2,1 S. 223f.
(3) St.A.2,2 S. 869
(4) Jes. 24,23


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Die normalsprachliche Dechiffrierung 'der Entscheidung nemlich' erschließt eine weitere Verkürzung. Kaum denkbar, daß bei drei gleich strukturierten Sätzen nur der letzte präzisiert wurde, nicht auszuschließen jedoch, ob nicht diese Bestimmung den 'Geist' in allen drei Erscheinungsformen charakterisiere. Doch ist der beiseit gesprochene Hinweis, wie das im heroischem Bild Chiffrierte zu verstehen sei, zwei anderen Erklärungen verwandt. Der 'Othem der Gesänge' ist 'menschlich' gesprochen 'Erkenntniß'. Die andere Zwischenrede, daß offenbarend zu sagen sei, weil das Widergöttliche offenbar herrsche, wurde schon erwähnt. Danach wären Erkenntnis und Offenbarung, parallel zum Geist der Entscheidung, den beiden anderen Vergleichen zuzuordnen. Ein Blick auf Hölderlins Darstellungstheorie befestigt diese Vermutung – mit der Auflösung des metaphorischen Scheins auf einer zweiten, werkkritischen Sprechebene tritt der Gegensinn des heroisch, natürlich und idealisch Gesagten zutage. Darin erfüllt und zerbricht das Gedicht die Postulate der Homburger Poetik. Der heroische Ton wird im Aufsatz ÜBER DEN UNTERSCHIED DER DICHTARTEN als im Gegensinn idealisch, 'Metapher einer intellectuellen Anschauung' definiert. (1) Dieser Begriff wurde in der Jenenser Bemerkung über das URTHEIL durchdacht. (2) Die 'intellectuelle Anschauung' erblickt das in sich innige 'Seyn'. Von ihr geht die theorethische 'Ur=Theilung' aus, die in existenzieller Praxis Entscheidung heißt. Wesen der prophetischen Rede ist es, die Unausweichlichkeit der Entscheidung sichtbar zu machen. Im heroischen Eingang zeigt Hölderlin die Duale des offenen Himmels und des himmelstürmenden, bundlosen, 'undichtrischen' Geistes mit eiferloser Einsicht in die Notwendigkeit des Zwistes. Diese Gleichmütigkeit entspricht eben jener 'idealischen Auflösung', deren Einigkeit der unerfahrenen Innigkeit zu Beginn des schöpferischen Prozesses korrespondiert.

(1) St.A. 4,1 S. 266ff
(2) St.A. 4,1 S. 216


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Die Vögel gewahren, ans Liebere sich haltend, ein dreifach Unterschiedenes. Um ein indiziertes Wort zu wagen, ist diese idealisch unterschiedende Betrachtungsweise das eigentliche Medium des Gesangs. Doch weil ihre kontrastierende Grundstimmung sinnlich ist, nennt Hölderlin sie 'fortgehende Metapher Eines Gefühls'. (1) Schon in dem Oxymoron 'die klugen Sinne' ist die Doppelheit unterscheidenden Denkens und einfältigen Empfindens angelegt. Das im Grunde Innige ist zu scheiden, ohne darüber das pansophische Gefühl zu verlieren. Jene Erkenntnis ist wohl die Einsicht in die Unterschiedenheit der Teile durch ein 'gleiches Gesez', welches trennt und nach Verwandtschaften verbindet. Weder dissonante Erfahrung der Getrenntheit noch naive Anschauung der sinnlichen Wirklichkeit, zu welcher die idealische Sangart 'sich neigen möchte', ist diese in ihren 'Bildungen und Zuammenstellungen gerne wunderbar und übersinnlich'. Wie sich die dissonant existenzielle Entschiedenheit von der Parteiischkeit der 'einander, untereinander' sich scheltenden Männer unterscheidet, so auch die klugsinnlichen Unterscheidungen der Dichterischen von jenen unter dem 'entlaubten Mast', die den Reichtum der Erde in ihrem System zusammenraffen. Zu lesen wäre also: 'der Himmel der Gesänge' 'in der Mitte' des Gedichts war Geist unterscheidender Erkenntnis.

(1) St.A. 4,1 S. 266


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Emanuel Swedenborg hat in seinen Eröffnungen himmlischer Geheimnisse den inneren Sinn der biblischen Pferde als Verständnis bestimmt. (1) Auf dem weißen Pferd reitet der offenbarende Paraklet gegen ein Heer auf anderen Pferden. Das Fleisch jener Rosse und Reiter wird den Vögeln unter dem Himmel zu essen gegeben. (2) Nach dieser Signatologie haben alle Wörter einen normalsprachlichen Gegensinn. Ähnlich sind in Hölderlins Theorie die naiven Bilder Metaphern einer heroischen Tendenz. Dafür sind die beiden natürlichen Perioden dieses Entwurfs unüberbietbares Paradigma: die Vögel und Berge fliegen und ziehen zum Ort der letzten Auseinandersetzung. Im Introitus der apokayptischen Vision nennt der Engel jenen Geist das Zeugnis der Weissagung. Dem entgegen ist ein anderer, der geistlich Aegypten (3) heißt. Entsprechend gibt es zweierlei Rosse. Der 'Leib' von diesen 'war Geist' und nicht Fleisch.

(1) z. B. in DE EQUO ALBO IN APOCALYPSI, London 1758, SUMMARIA EXPOSITIO DOCTRINAE NOVAE ECCLESIA, Amsterdam 1769, II, § 12
(2) Off. 19,9ff.
(3) Jes. 31,3


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Um mit einem Superlativ Hölderlins zu reden, übertrifft die Kühnheit des Nennens und Verschweigens alle übrigen Äußerungen. (1) Zuerst unfertig scheinend, entfaltet sich die Passage als ein Muster syntaktischer Virtuosität. Die elliptische Konstruktion wird zum Medium des kaum Sagbaren. Richtig ergänzt, entschlüsselt sie das Gedicht: der Geist der Weissagung, der Erkenntnis und der Entscheidung 'wehet zwischen den drei Säulen des Gartens'. (2) Daß diese gedrängte und verschiedene Aspekte amalgierende Analyse Hölderlins exzentrisch gegenweltliche Position nicht überzeichnet, mag eine Allusion in der fast manieristisch anmutenden Wende des Gedichts zeigen, von welcher der Rückgang zur unterschiedenen Einigkeit dieser tritonischen Monade beginnt: 'des Morgens beobachten die Stunden und des Abends die Vögel'. David sagt von den Hunden, die Hölderlin mit Allwissenden (3) gleichsetzt, sie liefen des Abends in der Stadt umher, heulten und murrten, wenn sie nicht satt werden, er aber wolle des Morgens singen. (4)

(1) ANMERKUNGEN ZUR ANTIGONAE; St.A. 5 S. 267
(2) IN LIEBLICHER BLÄUE…; St.A. 2,1 S. 373
(3) BROD UND WEIN; St.A. 2,2 S. 608
(4) Ps. 59, 7.8,15-17


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Für die Hölderlin-Philologie sollte die neue Aufgabe ein Aufruf zur Gemeinschaftsarbeit sein. Ihre Bürde, so verdienstvoll immer, würde jedem einzelnen zu schwer. Sie ist ein Aufruf, endlich zur 'Quelle' zu gehen und nicht mehr den 'Reichtum im Meere' zu suchen. Zu häufig segelten die Erörterungen mit dem Wind über den Text. Der 'Nordost' verheißt aber 'gute Fahrt' nur denjenigen, die ihm entgegen gehen; die 'gute Fahrt' ist hohe Ironie, Bestimmung jener, die nicht teleologisch wie die 'Staaren', sonden opportunistisch leben. Die Neue Kritische Ausgabe muß die Handschriften zeigen. Einer Philologie, die den Namen verdient, und die nicht insgeheim die Rede hasset, dürfen die gedruckten Texte nur als Hilfsmittel zu eiligerem Nachschlagen dienen. Der Abdruck von Varianten und Verschreibungen in separaten Bänden zerstört nicht nur den Zusammenhang, sondern dezimiert auch unzulässig das gedachte Wort. So liegt mehr als die Hälfte von 'Kolomb' ungelesen und unverstanden in den Lesarten und nur ein Bruchstück des Torsos ragt aus dem Schutt. Erst neben der vollständigen und typographisch qualifizierenden Wiedergabe der Textquellen ist die Rekonstruktion gereinigter Fassungen legitim. Kommentare gehören in den Anhang, denn sie altern mit der Progression von Erkenntnissen und mindern die Authentizität des Textes.