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Clavis Hoelderliniana

19  Geometrie des Echos

Allusionistische Abbildung unterscheidet sich von illusionistischer durch unvollständige Wiedergabe des Ähnlichen; sie weist nur darauf hin, statt es vorzutäuschen. Während Illusion, falls perfekt, wegen Vorgaukelung von Vollständigkeit, die Einbildungskraft einschläfert, fordert die Allusion zur Imagination auf. Oft genug wird sie jedoch als solche garnicht verstanden, und wenn, bleibt ungewiß, was eigentlich gemeint sei. Wo Allusion aus der Kategorie des gelegentlich Witzigen oder Heimtückischen heraustritt und zur Darstellungstechnik wird, muß es Regeln geben, um die jeweils angedeuteten Kongruenzen mit Sicherheit bestimmen zu können. Voraussetzung ist jedoch umfassende Kenntnis der möglichen Vorlagen und Gedächtnis, sich dieser im richtigen Augenblick zu erinnern – eine schier unerfüllbare. A priori gesetzt sei, es gälten für philologische Kongruenzen die mathematischen Sätze, Wörter seien trigonometrische Punkte, dem Gedanken nach ähnliche Sätze Winkelfunktionen. Dann wäre die Lage identischer Bilder variabel, kontextliche Zusammenhänge austauschbar und Gedanken auch in reziproker Richtung dieselben. Klopstocks Anspielung auf Jonathans Stab ist hierfür Paradigma. Stab allein, der Hinweis auf warnende Beispiele, ließe eine sichere Ortung nicht zu. Erst das zweite Zitat: 'Es sey euch wacker das Auge', indiziert die Quelle. Daß der Stab in die umgekehrte Richtung zeigt, zum Gipfel des Bewußtseins, und nicht auf den Honig am Boden, gehört zur Allusionstechnik, der es auf die kürzestmögliche Fixierung ans Vorbild ankommt und illusionäre Mimese stets vermeidet. Wird ein gnomischer Satz zitiert, verbirgt Allusion die Identität durch eben diese Umkehrung und verändert, weil Inversion allein nicht genügen würde, die Kennwörter mit Hilfe metaphorischer oder synonymer Begriffe. So ein Zitat im Gesang DER ISTER. Der Lauf des Stroms enthält ein Geheimnis – 'Vieles wäre zu sagen davon.' (1) Mit dem gleichen Satz bricht der Verfasser des Hebräerbriefes seine Exegese der Figur Melchisedeks ab: 'Davon hätten wir wohl viel zu reden; aber es ist schwer, weil ihr so unverständig seid.' (2) Anspielung verschweigt die Hälfte. Hölderlin spiegelt den Satz syntaktisch invers und ersetzt reden durch sagen. Wer sich mit dem Hinweis nicht begnügt und den Kontext der allusionierten Stelle liest, ist auf dem besten Wege, den verschwiegenden Makel zu tilgen. Zu Klopstocks und Hölderlins Parabeln ist nachzutragen, daß es sich um Parallelallusionen handelt. Sind zwei Größen untereinander gleich, so auch einer dritten. 'Wunderbar über Quellen beuget schlank ein Nußbaum und ( ) sich. Beere, wie Korall hängen an dem Strauche über Röhren von Holz.' (3)

(1) St.A. 2,1 S. 191
(2) Hebr. 5,11
(3) VOM ABGRUND NEMLICH…; St.A. 2,1 S. 250