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Clavis Hoelderliniana

9  Invides Prejuge

Zu den sanktionierten Behauptungen gehört, es fehle 'den reimlosen und unmetrischen Niederschriften der ersten Krankheitsjahre, da sie das strenge Baugesetz der Vaterländischen Gesänge nicht mehr' beachteten, 'an jedem gesetzlichen Kalkül'. (1) Noch Anfang 1804, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Masse der disqualifizierten Entwürfe zumindest konzipiert war, hat Hölderlin die kalkulable Zuverlässigkeit der Kunstwerke gefordert und gleichzeitig gerügt, daß es der modernen Poesie 'am Handwerksmäßigen' fehle, daß 'ihre Verfahrungsart' nicht 'berechnet' und nicht 'gelehrt' werden könne. (2) Damit wiederholt er eine alte manieristische Forderung. Aber dies sei in den Wind geredet, längst den Händen entglitten. Während sprachliche Strukturen noch eine Weile sich weiterlallten, zerbräche das ingeniöse Vermögen mit dem Zerfall der Person, als handle es sich hier um eine Paralyse. Doch verfehlen pathologische Erklärungen den unklärbaren Sachverhalt und führen weg vom Motiv jener voreiligen Diagnose vom primären Verfall der formenden Kräfte. Ohne kritische Spiegelung schließt jeweils individuelle Erfahrung Unproduktiver, die aus gestalterischer Schwäche am Architektonischen schier verzweifelten und dies als eine dem chtonisch Wirren mühsam aufgestülpte Schablone verachten lernten, die aufgepfropfte Architektonik sei dem rhapsodierenden Irren als erstes entrissen worden wie ein angemaßtes Kleid. Projiziert wird, die Kluft zwischen theoretischem Geschwätz und ungelenker Praxis bräche auf, wenn die potemkinsche Fassade fällt. Daraus zischt der Neid des Normalen, dessen Tendenz es ist, das Außergewöhnliche der eigenen Mittelmäßigkeit zu nivellieren. Mythologisch gemildert, schießt es den Geharnischten, der sich abwendete, in die Ferse.

(1) St.A. 2,2 S. 992
(2) St.A. 5 S. 195