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POSITIONEN
VI / 30-33

WG   'Es scheint […] ohne Not nivelliert.'; 14 zeilen; zusammenfassend: ihm scheine, dasz die bezeichnung 'gesang' hier etwas sei, 'das aus dem Diskurs des Dichters entnommen und dann als editorische Kennzeichnung gebracht' werde; konstatiert 'eine Art von deskriptivem Kurzschluß'; zitiert sodann 'eine folgenreiche Unterscheidung' im editorischen vorwort zu band 7: 'an die stelle des metrisch vorgeprägten versbegriffes tritt der weniger prätentiöse, dem quantifizierenden verfahren des dichters adäquatere der zeile und der zeilenbrechung'; die bezeichnung 'zeile' braechte 'die Verse' nicht nur 'um eine ganze ästhetische Dimension, nämlich um diejenige der geregelten metrischen Bewegung', sondern auch um diejenige 'des enorm wichtigen Enjambements'; 'zeile' sei 'ein Begriff aus der Schriftlichkeit, während der Vers mehr aus dem Bereich des Klingenden, des Mündlichen' stamme; dieser unterschied werde 'in der reduzierten editorischen Begrifflichkeit ohne Not nivelliert'

GM   'Aber auch die Zeile […] nicht Zeile ist, sondern Vers.'; 8 zeilen; bemerkt richtig, dasz sattler, wie im vorwort angekuendigt, dort 'zeile' sagt oder zeilen zaehlt, wo sie lieber 'vers' sagen wuerden; kreidet ihm dennoch an, dasz titelzeilen mit der sigle 'T' und die zeilen der prosa-vorrede zur 'Friedensfeier' mit 'P' bezeichnet werden; weist auf begriffliche ueberschneidung von disponierter zeilenbrechung und zeilenbrechungen aus raumnot hin


30  DARUM ZEILE STATT VERS

roland reusz umschrieb in seiner zu beginn von IV referierten und zitierten aeuszerung den unzulaessig als 'gesänge' bezeichneten inhalt der baende 7/8 als 'alle nicht in konventionelle metrische Schemata gebundenen Gedichte' und fuegte weiter unten hinzu, der titel 'gesänge' umgreife dasjenige, 'was nicht in konventionelle Schemata hineinpaßt, aber gleichwohl Gedichtform hat'; eben aus diesem und weiteren gruenden halte ich den metrisch vorgepraegten versbegriff fuer irrefuehrend und den stattdessen gewaehlten begriff der zeile schon wegen der in allen reinschriftlich ueberlieferten gesaengen hervortretenden quantifizierung der strophen fuer angemessener; ueberdies legte die segmentierende, das heiszt auch offene schreibweise hoelderlins eine aufgabe des versbegriffs schon darum nahe, weil das, was konventionellerweise auch als vers bezeichnet werden koennte, erst durch den rapport der segmente entsteht; diese waren aber zunaechst nach ihrem handschriftlichen erscheinungsbild zu edieren, das heiszt auch, mit einer zaehlung zu versehen, die den status 'vers' nicht haben konnte; auszerdem haetten nicht eindeutig als glossen erkennbare oder im verlauf des entwurfsprozesses in ihrer funktion wechselnde segmente vorab mit den bezeichnungen 'vers' oder 'zeile' qualifiziert werden muessen; im uebrigen verliert oder gewinnt keine von hoelderlin geschriebene zeile 'eine ganze ästhetische Dimension', wenn sie von uns statt 'vers' 'zeile' oder statt 'zeile' 'vers' genannt wird


31  ZU PROTOKOLL (4. september 2003)

ab hier der vollstaendige text; auf die fortsetzung der entgegnung kann leichten herzens verzichtet werden, weil die chronologisch-integrale edition der werke, briefe und dokumente (FHA 19/20) inzwischen genau an diesen punkt gelangt ist; mit der von vornherein ins auge gefaszten, von den gespraechsrezensenten wohlweislich beiseite gelassenen reprise ist zugleich auch die form disponiert, in der das ueber einen so langen zeitraum entstandene ergaenzt, geprueft, berichtigt werden kann; dies gilt besonders fuer die noch ganz von der erkenntnisarbeit gepraegte edition der Gesänge hoelderlins in den baenden einer historisch-kritischen ausgabe, in welcher die vollendungsluege nicht aufrechterhalten wird, und die im setzen wie im erwaegen grundsaetzlich als versuch und grundlage einer weitergehenden erkenntnisarbeit angesehen werden sollte; in diesem zweiten editionsschritt wird der darzustellende sachverhalt formal abweichend behandelt, wobei das hauptgewicht jetzt auf einer eingehenderen begruendung editorischer entscheidungen liegt; eine probe erscheint in wenigen wochen an dieser stelle


32  WELT IM VERRINGERTEN MASSTAB

gleichwohl ein wort zum befremdenden tantengambit wolfram groddecks, der die von mir, zugegebenermaszen, mit geringen mitteln herbeigefuehrte zahl der 288 segmente in zusammenhang bringt mit zeugen, die hier ohne belang sind; in der dreiseitigen einleitung zu FHA 8 wurde darauf hingewiesen, dasz sie der kabbala des isaak luria entnommen ist; vorausgesetzt wurde dabei, dasz die mit seitenzahl verzeichnete quelle - gershom scholem, die juedische mystik, frankfurt 1980 - wenn sie schon nicht gemeingut der literarisch gebildeten sein sollte, doch wenigstens bei einer kritik des sachverhalts zu rate gezogen wuerde; die rede ist dort von der zerstreuung der 288 sefirot, ihr eingeschrieben ist die erwartung einer kuenftigen sammlung; die uebereinstimmung der fragmentarisierenden schreibweise hoelderlins im zenit seines werks mit diesem als bruch der gefaesze und deren kuenftiger restitution beschriebenen vorgang veranlaszte jene formale kongruenz, die nicht mehr und nicht weniger sagen will, als dasz dem symbolischen akt des die Welt im verringerten Masstab darstellenden dichters ein gleichfalls symbolischer akt gegenuebersteht, der dem dies alles zusammenlesenden leser auferlegt ist; solange jene durch hunderte von beispielen zur evidenz gefuehrte voraussetzung einfach nur annihiliert wird, musz die kritik ihren zweck verfehlen


33  VON DER WAHRHEIT

Anfängerin großer Tugend, Königin Wahrheit,
Daß du nicht stoßest
Mein Denken an rauhe Lüge.

Furcht vor der Wahrheit, aus Wohlgefallen an ihr. Nemlich das erste lebendige Auffassen derselben im lebendigen Sinne ist, wie alles reine Gefühl, Verwirrungen ausgesezt; so daß man nicht irret, aus eigener Schuld, noch auch aus einer Störung, sondern des höheren Gegenstandes wegen, für den, verhältnismäßig, der Sinn zu schwach ist.


RR   Wir sollten nochmals auf den Aufbau der Ausgabe kommen. Ihre äußere Erscheinungsweise gerät dadurch ins Oszillieren, daß Sattler zusätzlich und, nach eigener Aussage, als Komplement der Ausgabe den Band 'Hesperische Gesänge' in der 'Bremer Presse' herausgebracht hat, der die von ihm konstituierten Schlußtexte transportiert. Wenn man sagt, es gibt innerhalb der Bände 7/8 keine konstituierten Schlußtexte, so haben wir hier einen Unterschied gegenüber der vorhergehenden Präsentation, etwa im Elegien-Band. Wird nun in den Bänden 7/8 ein stärkerer oder ein schwächerer Akzent auf die Textkonstitution innerhalb der Edition gelegt? Eine andere Frage ist folgende: Die Bände 7/8 sind nicht parallel angeordnet, sondern repräsentieren eine bestimmte Schrittfolge. Band 7 enthält die Dokumentation, Band 8 die Edition. Ist diese Art der Außendarstellung sachlich gerechtfertigt oder gibt es zwischen beiden Teilen eine Implikation von Voraussetzungen, die dasjenige, was als ein Nacheinander erscheint, als ein Ineinander erweisen?

WG   Die Ausgabe der 'Hesperischen Gesänge' erweckt letztlich den Verdacht, sie sei wichtiger als die sogenannte Historisch-Kritische Ausgabe ('sogenannt', weil in der Einleitung eine Distanz zu diesem Begriff sichtbar wird), so als ob das eine das mühselige Geschäft der Edition sei, das andere das Geschenk der Intuition oder Divination. Zwar sind die 'Hesperischen Gesänge' aus der Edition abgeleitet, aber sie gehen über diese hinaus und führen die vermeintliche Intention des Dichters fort. Manche Texte findet man in der ihnen gegebenen Form in den Bänden 7/8 so nicht wieder. Mein Eindruck ist, daß die 'Hesperischen Gesänge' als Quintessenz der beiden Bände über die 'Frankfurter Ausgabe' hinaussteigen und damit deren Begriff nochmals verändern, weil diese dadurch wieder zu einer Art Archiv herabgesetzt wird.

GM   Ich finde es schon problematisch, den Band 'Hesperische Gesänge' mit in unsere Auseinandersetzung mit Band 7/8 der 'Frankfurter Hölderlin-Ausgabe' einzubeziehen. Sattler selbst hat an keiner Stelle darauf verwiesen, daß die Textkonstitution eigentlich an anderer Stelle stattfindet. Unter der Rubrik 'zitierte titel' findet sich zwar der Literaturverweis (VIII 1022), und bei der 'Friedensfeier', glaube ich, weist er darauf hin, daß in den 'Hesperischen Gesängen' die triadischen Fugen deutlicher dargestellt werden als in der 'Frankfurter Ausgabe'. Als deren Benutzer bin ich jedoch zunächst allein auf die Bände 7/8 angewiesen.
Bei deren Textkonstitution ist rein äußerlich auffallend, daß, anders, als in den bislang erschienenen Bänden der FHA, auf den vierten Schritt der Textpräsentation verzichtet wird. Es gibt, zumindest nach außen ausgewiesen, keine Gruppe 'konstituierter' oder 'emendierter' Texte. Wenn man genauer hinsieht, dann wird man allerdings entdecken, daß diese Konstitutionsarbeit in die dritte Stufe der editorischen Aufbereitung, in die 'lineare Darstellung', mit eingegangen ist. Sehr viel stärker als in den vorherigen Bänden wird an dieser Stelle emendiert, etwa werden Überschriften hinzugefügt, die nicht da sind.
Das konstruktive Moment ist zudem sehr viel stärker ausgeprägt: Sattler klaubt sich aus verschiedenen Stellen, die nicht in einem evidenten materialen Zusammenhang miteinander stehen, Teile heraus und setzt sie innerhalb der 'linearen Textdarstellung' zusammen. Aber genau das ist es, was wir eine Textkonstitution nennen. Von daher ist es ein Etikettenschwindel, wenn er auf den vierten Schritt rein äußerlich verzichtet. Wenn man genauer hinsieht, ist der vierte Schritt gar nicht verschwunden. Denn die Textkonstitution geht ganz massiv, ohne daß man es immer durchschaute, in den dritten Schritt der Textdarbietung mit ein.

WG   Es werden sogar Texte, die – wie die 'Friedensfeier' – reinschriftlich überliefert und im strengeren Sinne Texte sind, wieder aufgelöst und als Segment bezeichnet. In der sogenannten
b-Version werden dann vom Herausgeber, aufgrund von dubiosen Federfahnenspuren oder Verklecksungen in der Handschrift, Textsegmente aus anderen Kontexten eingefügt und ein neuer Text konstituiert, nach dem keinerlei Bedarf besteht, wenn schon einmal der seltene Fall vorliegt, daß bei Hölderlin ein in sich geschlossener Text vorhanden ist. So werden, unter Hinweis auf Daniel 10, 3, wo sich die Formulierung 'in sack und aschen' findet (VIII 975f.), das Notat: 'und wie der Rathsherr / Saktuch', das sich im Homburger Folioheft findet (VII 334), in die Verse 86-88 der Reinschrift an die Stelle, wo von einem 'festlichen Gewand' die Rede ist, eingeflickt, und die ebenfalls aus dem Homburger Folioheft stammende – dort mit tintenleerer Feder eingeritzte – Aufzeichnung: 'Und der Himmel wird wie eines Mahlers Haus / Wenn seine Gemählde sind aufgestellet' (VIII 281) ersetzt die Verse 89 und 90. Die brutale Textmontage, die ich kaum noch als editorische Weiterdichtung bezeichnen würde, läßt fast vergessen, was sich Sattler bei der herausgeberischen Darstellung der einzigartigen Reinschrift von 'Friedensfeier' sonst noch erlaubt. Die Reinschrift zeigt ja nach jeder Strophentriade einen größeren Einschnitt. Das wird in der Ausgabe auch gar nicht bestritten, aber man liest erstaunt: 'deren größere triadenfugen werden auch hier nicht wiedergegeben' (VIII 975). 'Auch hier nicht' – das meint, daß auf die korrekte Wiedergabe der in der Handschrift vorgegebenen Textkomposition schon bei der a-Version verzichtet wurde (VIII 641). – Solche herausgeberischen Übergriffe sind auch dort zu kritisieren, wo Hölderlin selbst Texte später wieder aufgelöst hat, wie bei der 'Patmos'-Reinschrift. Sie wäre als Reinschrift im Prozeß der Textgenese festzuhalten und darzustellen. Genau dies passiert nicht, sondern man hat eine textgenetische Kontamination, die nicht mehr unterscheidet zwischen Reinschriften, Drucken, offenen Entwürfen und 'Segmenten', wobei ich mir nicht sicher bin, ob es bei Hölderlin tatsächlich 'Segmente' gibt, aber darauf werden wir wohl noch zu sprechen kommen.

RR   Das Ganze steht, das sehe ich auch so, in der Spannung von Dokumentation und Konstitution. Als ich in der Vorbereitung auf unser Gespräch die Bände 7/8 nochmals durchgesehen habe, habe ich noch einmal bewußt wahrgenommen, was das für ein chaotischer Papierüberlieferungszusammenhang ist, und daß jeder Weg, den man durch ihn zu gehen versucht, und jede Suche in ihm nach Sinn – wie der Durstende in der Wüste nach Wasser sucht – es verdient, aufgeschrieben zu werden, damit sich andere daran orientieren können.
Problematisch an Sattlers Weg ist aber, daß er den Experimentalcharakter seines Verfahrens nicht offenlegt: nämlich ohne Kompaß unterwegs zu sein, sich statt dessen für irgendeine Himmelsrichtung zu entscheiden und sie angehen zu müssen. Diejenige, in die Sattler geht, ist eine stark zahlentechnisch orientierte einerseits, und eine mit bestimmten biblischen Mythologemen versehene andererseits. Bedenklich ist nun, daß diese Versuchsanordnung in keinem der beiden Bände  a l s  s o l c h e  benannt wird. Mit anderen Worten: Ich vermisse, daß derjenige, der das Experiment macht, die Leute, die ihm dabei zuschauen, darauf hinweist, daß es sich eben um ein Experiment handelt. Sattler müßte als derjenige, der die Analysen vornimmt, hervortreten, damit man die Möglichkeit erhält, besser zu begreifen, was hier eigentlich geschieht.
Um es klar zu sagen: In solchen Fällen wie in den hier vorliegenden halte ich es für sinnvoll, eine abstrakte Ordnung vorzugeben und zu erproben, was passiert, wenn man sie durchexerziert. Diese muß aber als solche explizit benannt werden. Außerdem sollte sie den Gegenständen, mit der sie sich auseinandersetzt, nicht in einer Art Rückprojektion auf die Gegenstände als bereits existierende unterstellt werden. Ansonsten wäre es eine Hypostasierung, die zur Intransparenz führt. Denn wegen des Informationsvorschusses, den der Editor hat, begreift man nie, ob der Sachverhalt genau so vorliegt oder nur unter den Bedingungen des Experimentes so erzeugt wurde.

GM   Das Fehlen von Explizitheit, das Du beklagst, bringt Sattler erst einmal wieder in die Nähe von Friedrich Beißner, der an kaum einer Stelle seine Entscheidungen und sein Verfahren begründet hat. Dasjenige, was er als hervorragender Hölderlin-Kenner setzte, war das Gültige, der Maßstab, von dem alles andere abhing. Dies findet man zunehmend auch bei Sattler in den Bänden 7/8. Immerhin scheint mir Sattler in der Art, wie er die Bände anlegt, auf einen bestimmten Begründungsrahmen hindeuten zu wollen, nämlich in dem Aufsteigen vom Dokumentarischen zum Editorischen, vom 'Befund' zur 'Deutung', um hier noch einmal Hans Zellers Begriffspaar zu zitieren. Für diese Grundlegung steht – noch vor der Darstellung der Handschriften und ihrer Transkription – die 'zeittafel', die im Band 7 die Seiten 9-83 in Anspruch nimmt. Sattler stellt mit dieser chronologischen Datenauflistung und Briefzitaten, in die er die Entstehungsgeschichte der 'Gesänge' einmontiert, zunächst ein Gerüst bereit, das für seine Ausgabe leitend wird. Für diese 'zeittafel' ist nun Sattlers Begriff 'dokument' zentral, er numeriert sogar die hier angeführten Dokumente. Dadurch suggeriert er eine dokumentarische Begründung auch der Chronologie der Entstehung der Gedichte und behauptet eine enge Verflechtung mit anderen, vor allem brief lichen Äußerungen Hölderlins.

RR   Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Die Zeittafel ist immerhin fast 80 Seiten lang und besteht aus vielen Briefzitaten und anderen Dokumenten, aber auch aus vielen hypothetischen Datierungen, die bis ins Unwahrscheinliche hinein genau vorgenommen werden. So werden auch die späten Überarbeitungen der drei im Homburger Folioheft eingetragenen Elegien sehr genau in das Jahr 1804 datiert: Unter dem Datum 'letztes aprildrittel und anfang mai' liest man: 'vmtl für Siegrid Schmid abschrift der schon hergestellten version
b von 'Stutgard'' (VII 52). Unter dem Datum 'mai bis um den 11. juni' – in diese Zeit fällt auch das Ereignis, daß ein 'strich mit fast tintenleerer feder' den Gesang 'Germanien' 'tilgt' – wird festgehalten: 'danach vmtl fortsetzung der im märz begonnenen redaktion b der elegien 'Heimkunft', 'Brod und Wein' und 'Stutgard'' (VII 53). Und schließlich: '14. bis 18. juni vmtl herstellung der für Leo von Seckendorf bestimmten druckvorlagen' (VII 56). All diese Übergenauigkeit in der zeitlichen Zuschreibung textgenetischer Prozesse beruht auf einem Indiziengeflecht, das nicht mehr zu entwirren ist. Und diese Zeittafel beansprucht denselben Status wie die Abbildung der Handschrift selbst, von der man zunächst denkt, sie sei das eigentlich Dokumentarische.

RR   Wir sollten aber diesen Begriff 'Dokument' in bezug auf die Zeittafel etwas eingehender reflektieren. Der Wortgebrauch von 'Dokument' hat das Moment bei sich, daß er gegen die Interpretation gewendet ist. Das Dokument soll interpretationsfrei gehalten sein, d. h. es ist, was der Interpretation vorausliegt und die Instanz, an der diese sich zu messen hat. Das Mißliche an der hier gegebenen Zeittafel besteht jedoch in folgendem: Sie dient nicht nur der Auflistung der Dokumente, sondern in sie werden, besonders dann, wenn es um Manuskripte geht, äußerst spekulative Hypothesen der Werkchronologie implantiert, obgleich sie den Anschein erweckt, rein dokumentarisch zu sein.
Die zitierten Briefdokumente sind nicht kontrovers, da man sie, ob eigenhändig datiert oder nicht, meist ohne Schwierigkeit auf die chronologische Achse abbilden kann. Sattlers Zeittafel liest sich in diesen Fällen wie ein konventionelles Regestenverzeichnis. Doch je weiter man vordringt, umso eigenartiger werden die zeitlichen Hypothesen. Ich gebe ein Beispiel. Es betrifft das Jahr 1802. '18. prairial X; pfingstmontag; Hölderlin in Straßburg; sichtvermerk im reisepaß; [stempel:] Vu p.r le M.re des Strasbourg p.r passer le pont de Kehl [handschriftlich:] le 18. p. al X / [unterschrift]' (VII 29). Das ist also ein Datum, das sich mit unserem klassischen Dokumentverständnis genau belegen läßt. Gleich im folgenden steht dann aber '7. Juni bis 2. Juli vmtl. entschluß zur wanderung nach Morea; zunächst vmtl. Bielersee'. Aus meiner Kenntnis des Werkes von Hölderlin sehe ich keine Instanz, die mich vermuten läßt, daß Hölderlin tatsächlich nach Morea [i. e. dem Peleponnes; Anm. d. Red.] wandern wollte. Es gibt sicherlich die berühmte Stelle in dem Gedicht 'Der Rhein', wo der Name fällt [v. 15]. Aber für die interessante Vermutung, daß Hölderlin vorhatte, nach Morea aufzubrechen, hätte ich schon gerne eine Begründung. Statt dessen finde ich die nackte Vermutung in einer Zeittafel, wodurch der Anschein erweckt wird, als sei sie aus einem Dokument abgeleitet. Eigentlich ist sie reine Spekulation, gegen die ich als solche nichts einzuwenden habe, nur, sie sollte an der Stelle plaziert werden, wo Spekulationen normalerweise stehen, und nicht in einer Zeittafel, weil diese Vermutung keinen empirischen Index hat.

PS   Die Zeittafel, da dürfte Einigkeit bestehen, ist nicht zu kritisieren, sofern man sie auf Hölderlins Leben bezieht. Problematisch wird sie an einigen, auch bereits genannten Punkten. Zum Beispiel die Abkürzung 'vmtl.', die immer dort begegnet, wo es um die Entstehung von Handschriften geht, sofern sie keine Briefe sind. Darüber hinaus gibt es merkwürdige Formulierungen, die in einer Zeittafel konkretisiert werden müßten. So die Abfolge von 'um den 3. Januar', 'um den 4. Januar', 'um den 5. Januar' (VII 9f.) etc. Eine Erläuterung bleibt aus.
Ein anderes Beispiel ist ein Brief Brentanos aus Heidelberg an Achim von Arnim über Sinclair, datiert auf 'um den 21. september' 1806 (VII 79). Dieser Brief ist verschiedentlich gedruckt worden, zuletzt vollständig in dem von Schultz herausgegebenen Briefwechsel Brentano-Arnim, zuvor in der Frankfurter Brentano-Ausgabe, die selbst bereits problematische Datierungen vornimmt. An dem hier gegebenen Zitat sieht man, daß Sattler nicht nach der kritischen Ausgabe und nicht den vollständigen Text zitiert, sondern nach einer alten Ausgabe, vermutlich der von Steig. Die Auslassungen sind nicht markiert, wie überhaupt modernisierte und kritische Texte gemischt zitiert werden. Weil es keine vollständige Stelle ist, erkennt man nicht, daß hier eigentlich noch mehr über Sinclair gesagt wird.
Ein großes Problem ist nun die Datierung. Im erwähnten Brief heißt es: 'Ich sehe täglich der Niederkunft meiner Frau entgegen'. Bekanntlich ist Sophie Brentano am 31. 10. 1806 bei der Entbindung eines totgeborenen Mädchens gestorben. So ist es sehr befremdlich, und ich habe es nirgendwo gefunden, daß Brentano sich schon 'um den 21. september'  t ä g l i c h  auf die Niederkunft seiner Frau eingestellt haben wird. Der Brief wird normalerweise datiert auf Mitte bis Ende Oktober. Wie kommt Sattler auf seine Datierung? Hier wird eine Verläßlichkeit vorgespiegelt, die von dem überlieferten Material nicht gestützt wird.

GM   Selbst wenn man diese Unsicherheiten in Betracht zieht, so wird man immer zugeben müssen: Bei Briefen haben wir zumeist relativ sichere Daten, zumindest bei den Hölderlin-Briefen gibt es nur wenige Divergenzen. Deshalb kann man sie auch in eine Zeittafel einbringen. Das Problematische besteht darin, die Gedichte in diese Zeittafel zu integrieren. Soweit ich weiß, gibt es – vor der sog. Wahnsinnszeit – bei Hölderlin keinen einzigen Gedichtentwurf, den er datiert hat. Damit Sattler dieses Zeitgerüst, das er, sicherlich manchmal auch fragwürdig, aus Briefen gewinnt, überhaupt gebrauchen kann, muß er die Gedichte einmontieren. Ein Beispiel: 'mai bis um den 11. Juni' – also immerhin eine recht fixe Datierung von etwa fünf, sechs Wochen – 'fortsetzung des entwurfs 'Der Einzige' […]; dann vorläufige reinschrift
S1331 auf dem doppelblatt 313; während in der Warthauser reinschrift S130 das wort 'Vaterland' hervorgehoben wurde, gilt das skripturale signal hier dem erinnernden ich, dessen selbstgewißheit brüchig wurde; dem denkzeichen antwortet das neben dem schluß der elegie 'Heimkunft' notierte, auf das zentrale problem der jenaischen philosophie zurückweisende S130 'wie / kann / ich / saagen'; danach die auf dem streifen eines folioblattes notierte erweiterung S135 'Die Wüste …'' (VII 52).
Was passiert hier? Nicht mehr durch Dokumente, sondern eindeutig durch Interpretation gestützt versucht Sattler, genaue Abfolgen von verschiedenen Gedichtteilen oder -niederschriften in das chronologische Gerüst einzumontieren. Ich finde es außerordentlich problematisch, daß er den dokumentarischen Teil mit interpretatorischen Elementen versieht, die für den Leser, der nicht sofort kritisch herangeht, doch einen Faktizität beanspruchenden Charakter bekommen.

RR   Jeder, der sich wie Sattler mit der Konstitution und der textkritischen Darstellung der Hölderlin-Texte beschäftigt, hat das Recht und im Grunde auch die Pflicht, darüber nachzudenken, wie die Sachen miteinander zusammengehören könnten. Das kann durchaus spekulativ sein, es muß wahrscheinlich sogar so sein. Der geeignete Ort aber, um diesen Zusammenhang zu explizieren, wäre ein Werk-Essay: Wie stelle ich mir die Chronologie vor, in der Hölderlin die einzelnen Teile in die Materialien geschrieben hat? Dies würde heißen, daß man zu begründen versucht, weshalb bestimmte Syllogismen so vollzogen werden können, und vor allem, daß man von Zeit zu Zeit auch mal 'ich' sagt.
Daß die Spekulation so pseudoobjektiv in die Dokumentation einfließt, verstehe ich als Ausdruck von Ängstlichkeit: Man will dasjenige, was man für sich erschlossen hat, den andern nicht eigens zur Diskussion stellen. Statt dessen suggeriert man, daß es sich faktisch so verhalten hat, zumindest wird durch die Integration der Spekulation in den dokumentarischen Teil diese Schlußfolgerung nahegelegt. Dieser Vorgang läßt sich kaum verteidigen, denn er führt zu einer Vermischung dessen, was man einigermaßen sicher annehmen kann, und dessen, was nicht. Eine Edition sollte im Gegenteil darauf bedacht sein, diese beiden Teile scharf voneinander zu trennen.
Damit ist, das habe ich ja schon ein paarmal gesagt, selbstverständlich kein Präjudiz gegenüber Spekulation oder Interpretation ausgesprochen, aber der Schritt von der Dokumentation in die Interpretation, die immer dabei ist, sollte stärker akzentuiert werden, als das bei Sattler der Fall ist. Abgesehen davon bekommen wir hier diese Art von Forschungslogik vorgeführt, wie Hegel sie erstmals, und dann Marx nochmals, expliziert hat: Daß hier einerseits der Anfang vorgetragen werden soll, auf dem alles andere basiert. In Wirklichkeit ist bereits in die Darstellung des Anfangs die gesamte Arbeit eingegangen, während das Folgende nur die Auswicklung dessen gibt, was in diese Zeittafel bereits implantiert worden ist.
Und selbst wenn man so vorgeht, müßte man es zumindest explizieren. Man kann dem Leser nicht einfach nur das fertige Produkt eines komplexen Gedankengangs vorsetzen und die Zwischenschritte verschweigen. So entsteht dann leicht der Eindruck, die Schlußfolgerungen seien stillschweigend erschlichen, und dieser Eindruck entsteht meiner Meinung nach zu häufig, wenn in der Zeittafel von Datierung im Zusammenhang mit Manuskripten die Rede ist.
Ein anderes Beispiel: Wir haben bei Sattler fast durchgängig eine Spätdatierung von Manuskripten, die für mich genau so wenig gut begründet ist wie die Frühdatierung von Manuskripten bei Beißner. Ein typischer Fall: 'vmtl. vor der juli mitte reinschrift / 19
6 des mglw. schon in Hauptwil vollständig entworfenen gesangs 'Am Quell der Donau'' (VII 31), und zwar 1802. Ich weiß nicht, wie Sattler auf die Jahreszahl kommt. Bei Beißner steht: 1801. Beides ist gleich sinnvoll oder gleich sinnlos, wenn nicht erläutert wird, wie die Datierung zustande kommt.

GM   Ich darf einmal etwas Positives dazwischen setzen. Es gibt bei Sattler eine philologische Argumentation, die wirklich Hand und Fuß hat. Keiner hat wohl so genau Papierqualitäten, Tinten, gebrauchte Wasserzeichen usw. beobachtet wie Sattler. Da gibt es material ausgewiesene Argumentationsgrundlagen, und die werden auch evident gemacht, bestimmte Schreibzusammenhänge zu rekonstruieren. Sie gehen zwar durch die besagte Vermischung etwas verloren, aber das ist zumindest etwas, was ich positiv notieren möchte.

RR   Dem kann ich mich anschließen. Es wäre aber sehr gut, und das sage ich jetzt ergänzend, man hätte eine tabellarische Zusammenstellung von identischen Papieren, ansatzweise identischen Tinten und von identischen Wasserzeichen und dergleichen. Dann hätte man die Möglichkeit, diese hier subliminal auf die Datierung einwirkenden Sachen besser zu begreifen. Es ist aus der Edition selbst heraus unmöglich und würde eine Revision der kompletten Ausgabe bedeuten, wenn man sich darüber Klarheit verschaffen wollte.
Wenn man sagt, man hat damit auch ein positivistisches Erkenntnisziel verknüpft, fehlen meines Erachtens Materialtabellen, die für Sattlers stillschweigend vorgenommene Syllogismen, und auch in seinem Interesse, eine Rolle spielten. So aber wirkt es wie eine Kryptologie: Man ist nicht in die Geheimlehre initiiert, und also versteht man sie nicht.

WG   Als außenstehender Kritiker könnte man über diese Ausgabe sagen, sie sei eben unwissenschaftlich. Das denke ich jedoch nicht. Die Ausgabe ist vielmehr in einem sehr emphatischen Sinne antiwissenschaftlich. Dazu ein kleines Beispiel: In Bezug auf die drei letzten Gedichte der sogenannten 'Nachtgesänge' erfährt man – im Zusammenhang einer Satzkonstruktion, die mir nicht ganz klar geworden ist – daß sie 'auf die immer noch künftige, jenseits szientifischer verhunzung und politischer vereinnahmung liegende wirkung des Gesangs' deute (VII 47). Die Forderungen, die Du, Roland, stellst, werden durch den Gestus der Ausgabe, durch den autoritativen Charakter, den sie zunehmend gewonnen hat, abgeschmettert. Man soll nicht fragen, sondern sich erst einmal gläubig darauf einlassen. Die vom Herausgeber konstituierten Texte werden zu heiligen Texten erklärt, und dies nicht im Sinne eines säkularisierten, sondern eines neuen Heiligen. Das ist ein Umgang mit literarischer Überlieferung, den ich ablehne. Deshalb ist diese Ausgabe auch nicht experimentell, sondern greift zu Darstellungsformen, die selbst schon semantisch sind, und zwar bis in die abstraktesten Zahlen hinein. Die insgesamt 288 Segmente sind nicht durch die Überlieferung gerechtfertigt, sondern durch eine Vorgabe – 288 ist nämlich die Verdoppelung von 144, und 144 Tausend Gerechte sind es auch, die beim Jüngsten Gericht übrig bleiben. (Meine Tante war bei den Zeugen Jehovas, daher weiß ich das.) Es ist die Apokalypse des Johannes, wo das steht (Off. 7, 4; 14,1). Die Zahl 144 ist also hochgradig semantisch besetzt. Und schließlich sind es 2 x 12 Gesänge, was als Quintessenz aus der Edition in Band 8 herausspringen soll. Das verweist zunächst auf die 24 Stunden des Tages, dann aber auch, in der Potenz, wiederum auf die Zahl 144. Diese Zahlenmystik steckt in der Ausgabe drin, aber sie ist nicht aus der Überlieferung abgeleitet, sondern sie wird an diese von außen herangetragen und verdichtet sich zu einem Ordnungsschema, das im Grunde keine Fragen mehr zuläßt. Oder eben nur ketzerische.

RR   Gegen ein Experiment mit einem abstrakten Algorithmus wäre an sich nichts einzuwenden, wenn es als solches offengelegt würde. Ich kann etwa die Vorgehensweise, mit der Roland Barthes in 'S/Z' Balzac liest, verstehen, auch wenn es nicht meine Art ist, mit Literatur umzugehen, denn Barthes beschreibt vorweg genau das Artifizielle des Verfahrens. Die Vermischung bei Sattler besteht ja darin, daß man die Vorgabe des Ordnungssystems nicht durchschaut. Und Band 7, der als dokumentarischer Band ausgewiesen ist, enthält nicht nur die Zeittafel, sondern, auf sie folgend, Faksimiles mit Umschriften.
Schließlich das Register: Es ist überschrieben mit 'segmente (chronologisch) dokumentarischer teil' (VII 523). Das Interessante ist, daß die einzelnen Segmente – sie sind nicht vollständig aufgeführt, weil eigenartigerweise auch Drucke als Segmente zählen, die nur im editorischen Teil der Ausgabe erscheinen – wieder unter Oberkategorien gefaßt werden, nämlich von 1 bis 24.
Diese Unterwerfung der einzelnen Bruchstücke – und ich sage jetzt ausdrücklich nicht: Segmente – unter die 24 Einheiten ist meines Erachtens willkürlich. Um ein Beispiel zu nennen: Es gibt auf einer Handschriftenseite, die wahnsinnig unübersichtlich ist, das mit anderer Tinte geschriebene Wörtchen 'und'. Das bekommt nun eine Segmentnummer und wird dann in einen anderen Zusammenhang eingebaut. Das halte ich für völlig überzogen! Da steht irgendwo das isolierte Wörtchen 'und', und man kann es nirgendwo zuordnen. Aber warum muß man es denn überhaupt irgendwo einordnen?

GM   Die Willkürlichkeit der 24 Einheiten, die im Segmentregister zu Band 7 zum ersten Mal erscheinen und die dann in Band 8 als eine Art Obergliederung fungieren, wird allerdings von Sattler im Vorwort zu Band 7 eigens betont: 'die bei der arbeit hifreiche einteilung in gliedernde abschnitte [1] – [24] wurde in die edition übernommen.' Sattler stellt also in diesem Fall heraus, daß es sich um eine von ihm eingeführte artifizielle Gliederung des überlieferten Materials handelt, um eine künstliche Gruppierung von Segmenten, die für die editorische Arbeit bessere Überschaubarkeit bringen soll und die sich, wie er sagt, bewährt habe. Wenn er hier wiederum auf die magische Zahl 24 kommt (auch die Einteilung der Handschriften in 6 Hauptgruppen scheint mir nicht frei von diesem Zahlenspiel zu sein), kann man das immerhin als selbstironischen Hinweis auf das 'Gemachtsein' der Zählungen werten. Die mystisch erscheinende Zahlenspielerei wird überdeutlich hervorgehoben, wird sozusagen selbstreferentiell 'mit dem Pedal' gespielt, wie die Russischen Formalisten sagen würden, und damit von einer allzu großen semantischen Überfrachtung freigestellt.

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RR   Bei Dokumenten muß man sich fragen, ob es sich um ideale oder um materiale Gebilde handelt. Im juristischen Sinne sind mir Dokumente eher als materiale Gebilde geläufig, etwa als ein Fetzen Papier: Auf dessen Vorderseite kann sich eine Wäscherechnung, auf der Rückseite eine Notiz befinden, und doch handelt es sich um ein Dokument und geht auch als ein solches zu den Akten. Bei Sattler scheint das Dokument, obwohl es materiale Bezüge hat und die Faksimiles so situiert werden, als ob sie Dokumente abbilden, ein ideales Gebilde zu sein. Dokumentiert werden nämlich die Segmente.
Daraus ergibt sich für mich ein ganzes Bündel gravierender Probleme. Zunächst: Es gibt hier, wie Gadamer wohl sagen würde, eine Antizipation auf Vollkommenheit, die als solche gar nicht erläutert, sondern kurzerhand vorausgesetzt wird, so als ob das Überlieferte auch tatsächlich  v o l l s t ä n d i g  überliefert sei. Exemplarisch ist folgende Aussage in der Einleitung des editorischen Teils: 'schon mit den 1797 marginal in Gotthold Stäudlins 'Musenalmanach fürs Jahr 1792' eingetragenen, stellenweise kaum noch leserlichen bleinotaten […] sind innerstes motiv und movens des von jugend an versuchten, aber erst im sommer 1802 wirklich beginnenden gesangs festgehalten; gleichwohl ging kein gedanke und kaum ein wort dieser vorstufen verloren' (VIII 535). Unklar bleibt, ob sich diese Aussage auf einen bestimmten Text Hölderlins oder seine Dichtung in der Spätzeit überhaupt bezieht; doch selbst wenn es sich nur auf den einen Text bezieht, ist es eine Behauptung, die einer plausiblen Begründung bedürfte!
Es bedeutet nämlich, daß Sattler über Einsichten in Sachverhalte zu verfügen vorgibt, in die man schlechterdings keine Einsicht haben kann, nämlich in Verschollenes. Bedenklich daran ist, daß ich meinen Phantasieraum von vorneherein stark einschränke, indem ich dasjenige, was überliefert ist, für vollständig überliefert erkläre. Wie aber kann ich wissen, ob nicht zu den Texten, von denen er hier redet, nicht auch Entwürfe existiert haben, die nicht überliefert sind? Vorausgesetzt wird von Sattler statt dessen, daß hier alles ediert ist, was Hölderlin je geschrieben hat. Dieses Konzept klammert ein Problem gänzlich aus, das Hölderlin gerade in der Spätzeit interessiert hat, nämlich das Verschollene: Wie kann ich mich überhaupt auf Verschollenes beziehen, wenn dies a priori nicht in den Raum meiner Kenntnisse gehört? Muß man tatsächlich den Raum des Möglichen vollständig auf den des Wirklichen reduzieren?

WG   Die Ausblendung des Verschollenen ist ein Effekt der vorweggenommenen Vollkommenheit, wie sie sich auch in den Zahlenspielen zeigt. Das Operieren mit der '24' als fast schon religiös besetzter Zahl schafft einen irrsinnigen Sinn-Input in eine möglicherweise nicht durchgängig sinnvolle Überlieferung, die dann auch keine Lücken mehr haben darf. Da kann der Herausgeber nur hoffen, daß nicht plötzlich doch noch Hölderlin-Texte gefunden werden …

PS   Das sehe ich auch so. Außerdem hat die von Sattler behauptete Lückenlosigkeit der Überlieferung die Pointe, daß alles, was überliefert vorliegt, als durch und durch autorisiert gilt. So dient sie zu nichts weniger als zur Autorisierung der Edition.

GM   Lückenlosigkeit der Überlieferung meint bei Sattler natürlich nicht, daß alles, was Hölderlin je geschrieben hat, überliefert ist, sondern daß alles, was Hölderlin für bewahrenswert befunden hat, bewahrt worden ist. Hölderlin ist selbst, wie es bei Sattler heißt, der Zensus der Überlieferung geworden. Er vernichtet alles das, was für ihn nicht bedeutsam ist. Positiv gesprochen bedeutet diese Annahme Sattlers: Alles, was zur Restitution seiner 'gesänge' von Bedeutung ist, ist uns auch erhalten.

PS   Ich lese einmal die Stelle vor, die es in diesem Kontext zu deuten gälte: 'die fragmentarisierung weiterer reinschriften und entwürfe (wie auch das gänzliche fehlen einiger entwürfe)  d e u t e t  auf einen abschließenden zensus, bei welchem alle  n i c h t  u n m i t t e l b a r  zum corpus des integralen gesangs gehörenden, zu seiner restitution nicht erforderlichen papiere ausgesondert wurden' (VIII 535). Eine hinreichend schillernde Formulierung, eine Melange aus Beobachtung und Setzung. Ich wüßte gerne, wie das Wort 'deutet' in diesem Satz zu verstehen wäre. Ferner: Was meint 'nicht unmittelbar … gehörenden'? Und schließlich: Das Nicht-Gehörende ist doch keineswegs zwangsläufig identisch mit dem Nicht-Erforderlichen. – Ein für die Edition zentraler Satz wird mit derart vielen Implikationen bepackt, daß es mir unmöglich wird zu verstehen, was mit ihm eigentlich gesagt werden soll.

WG   Der 'abschließende zensus' ist etwas, das Hölderlin herausgeberisch unterstellt wird und dazu führt, daß ein Entwurf wie die sog. 'Feiertagshymne' aus dem 'corpus des […] gesangs' herausfällt. Hier wird nun doch bedenklich reduktionistisch mit der Überlieferung umgegangen.

RR   Das Problem beschränkt sich nicht auf die offene Frage: Was wäre, wenn es noch Handschriften gäbe, von denen wir keine Kenntnis haben? Es zeigt sich noch von einer anderen Seite: bei den Handschriften, die zwar erhalten sind, aber für diese Gedanken keine Rolle spielen. Immer ist die Vorstellung eines im Wortsinn Exklusiven leitend, ebenso die Setzung, daß keine Kontingenz existieren darf. Man kann von hier aus überleiten zum Begriff des Dokuments, von dem gesagt werden muß: Man kann zwar die Dokumente vollständig sammeln, aber ob es wirklich alle Dokumente sind, die existieren, ist eine andere Frage. Wie man diese Frage beantwortet, scheint davon abhängig zu sein, ob man die Existenz von Kontingenz erträgt oder nicht.
Mit der Abschließung nach außen korreliert eine starke Einschließung nach innen. Dabei hängt der Begriff des Dokuments für mich eng zusammen mit dem des Zeichens, der weder, wie meistens bei Sattler, weiter erläutert wird noch explizit, d. h. als Begriff auftaucht. Dennoch ist er unentwegt präsent, weil absolut alles – von Schmauchspuren bis Weinflecken und was immer auf den Papieren zu finden ist – als Zeichen gedeutet wird. Ich spreche nicht dagegen, Bestimmtes semantisch aufzuladen, aber es gibt eine vom Editor zu bestimmende Grenze zwischen Ereignissen, die kontingenterweise beim Schreiben passieren können, und Phänomenen, die als absichtlich in der Handschrift auftretend zu beschreiben sind.
Diese Grenze mag schwimmen, aber ihre Existenz zu leugnen ist eine ganz andere These. Den Befund von sieben oder acht kleinen Punkten zu deuten, es handele sich dabei um eine Signatur, heißt, daß ich mir das Tropfen der Feder nicht vorstellen kann. Nur ein Beispiel: Geschrieben steht 'Bis zürnend er' (VII 129), dann folgen leicht diagonale, schräge Doppelstriche. Im Faksimile sieht man, daß an dieser Stelle jemand wohl getestet hat, wie die Feder läuft. Diese Doppelstriche sind als Segment gezählt und mit einer Semantik aufgeladen, deren Plausibilität nur behauptet ist. Sie gehören zu den Passagen, die wie folgt erläutert werden und zentral sind für dasjenige, was Sattler als Konstruktion voraussetzt: 'der korrektur am geschönten bild einer welt diesseits der entscheidung entspricht das syllabische, die segmentierte gestalt des gesangs vorgebende diagram
m S175 : 22' (VIII 526).
Daß die Doppelstriche poetologische Reflexionen sind – rein technisch gesehen können sie ja einfach Momente der Federführung sein –, müßte als Hypothese gekennzeichnet werden. Sie als Moment der Konstruktion zu nehmen, ist für mich nicht nachvollziehbar. Auszuschließen, hier habe Hölderlin nur die Feder eingeschrieben, hängt mit dem Ausschluß von Kontingenz in Sattlers Darstellungsform zusammen.

GM   Auf derselben Seite wie die Doppelstriche (VII 129) befinden sich diese ominösen Kastenklammern ohne Inhalt. Unter der Rubrik 'zur edition' findet man die Erklärung: 'textbegleitendes zeichen' (VII 8). Ich habe diese 'textbegleitenden zeichen' auf diesen und anderen Faksimiles nicht ausmachen können. Hier wird also etwas dokumentiert, was zumindest für den Benutzer der Ausgabe nicht existent ist. Wenn man verfolgt, welche Relevanz diese 'textbegleitenden zeichen' für die Rekonstruktion von Segmentzusammenhängen haben, wird man den Eindruck nicht los, daß sie erfunden wurden, um bestimmte Deutungen zu ermöglichen. So dient beispielsweise auf Blatt 323/3 ein Rauchloch – von Sattler gedeutet als 'irregulär 'an harzigen Bäumen' sprossendes blatt' (VIII 901) – als Signal, ein Textbruchstück auf Blatt 307/72 als Textänderung dem Gedicht 'Der Ister' zuzuordnen und zugleich den Zeichencharakter, der die
a-Version von der b-Version unterscheiden soll, zu stützen. Es wird also mit der Einführung der 'textbegleitenden zeichen' ein Kriterium gewonnen, um bestimmte Deutungen und Textzuordnungen zu rechtfertigen. Umgekehrt wäre also festzustellen, daß durch die Interpretation die Dokumentation von Ephemerem oder gar Nicht-Existentem semantisch aufgeladen wird.

RR   An solchen Stellen wünscht man sich, daß die Edition keine Reproduktionen verwendete, die die Undeutlichkeit der Vorlage nochmals verdoppeln, sondern Ausschnittsvergrößerungen oder andere Darstellungsweisen, die die Manuskriptbefunde versinnlichen, gerade wenn sie eine so bedeutende Rolle spielen. Überhaupt war es keine kluge Entscheidung, den Kontrast bei der Wiedergabe der Handschrift wieder zurückzunehmen, wie das zu einem bestimmten Punkt des Produktionsprozesses hier geschah.
Darüber hinaus sind die, vorsichtig gesagt, asemantischen Momente der Handschriftenüberlieferung natürlich deshalb von so großer Bedeutung, weil sie von Beißner oft nicht wahrgenommen worden sind. Wenn ich an einer Stelle zeigen kann,  d a ß  sie eine Bedeutung haben – es gibt etwa in Hölderlins poetologischem Text 'Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig wurde' Passagen, in denen Kurvenformen vorkommen und von denen bisher keine vernünftige Interpretation gegeben ist, man kann sich aber vorstellen, daß diese Kurvenformen mit dem explizierten Gedankengang zusammenhängen –, so gibt das mir noch nicht das Recht, für alle anderen Stellen, an denen ich merkwürdige Artefakte in der Handschrift habe, gleichsam automatisch zu unterstellen, daß auch sie sinnhaltig sind. Das muß in jedem Einzelfall geprüft werden. Die Voreinstellung kann jedoch nicht in der Voraussetzung bestehen, daß sie Sinn  h a b e n ,  sondern nur, daß sie Sinn  h a b e n  k ö n n t e n  – dann aber muß das jeweils begründet werden.
Um einen allgemeinen Punkt hervorzuheben: Zeichen gibt es nicht von sich aus, sondern wir  n e h m e n  etwas als Zeichen für etwas. Es ist also von Kontextbedingungen abhängig, daß uns etwas als Zeichen auffällt. Damit es als solches akzeptiert werden kann, bedarf es einer Erläuterung. Mithilfe von Phänomenen, die ich noch nicht als Zeichen wahrnehme, kann ich nicht andere, nämlich semantische Zeichen, in ihrer Abfolge begründen. Von Sattler wird jedes Federputzen als zeichenhaft vorausgesetzt, ohne das eigens zu begründen; statt dessen wird sofort davon gehandelt, worauf es verweist.

GM   Naja, es gibt auf den Faksimiles schon eine ganze Menge Dinge zu sehen, die auch Sattler nicht als Zeichen interpretiert. Er geht also auch selektiv vor, aber richtig ist schon, daß bei ihm der Hang zu beobachten ist, möglichst alles, was auf der Handschrift zu sehen ist, zu verwerten und mit einer ganz bestimmten Bedeutung aufzuladen.

PS   Dieser Hang zeigt sich für mich bereits auf der Ebene der Materialbeschreibung, wo Bedeutung mitunter durch die Art und Weise der Dokumentation von Befunden insinuiert wird. Ich verweise auf zwei Stellen, bei denen sich Brandlöcher bzw. Schmauchflecken in den Handschriften finden. Im einen Fall wird es für die recto-Seite vermerkt, bei der verso-Seite aber nicht, im anderen ist es umgekehrt (VII 258 bzw. 261; 133 bzw. 130). Ein weiteres Beispiel: Auf Seite 321 ist, Zeile 25, 'ein eingekratztes loch' notiert. Auch hier wird auf der recto-Seite nicht darauf verwiesen, als ob nicht jedes Blatt seine zwei Seiten hätte.
Dasselbe gilt für die Stellen, die in der Reproduktion nicht zu erkennen sind, auf S. 285 bzw. S. 313. In beiden Fällen heißt es: 'perspektivische tuschzeichnungen: stuhl'. Wenn aber mit Tusche gezeichnet ist, ist es umso unverständlicher, warum man davon nichts sehen kann. Kommt das von der schlechten Qualität der Reproduktionen? Wir haben die Sache mit der tintenleeren Feder, mit den Traubenkronen-Wasserzeichen, was oft vorkommt: Wieso wird dergleichen nicht wenigstens einmal durch Infrarot oder Blattpausen dokumentarisch gezeigt?

WG   Nocheinmal: Ein Zeichen ist nicht etwas, was da ist, es kann auch nicht eigentlich dokumentiert, sondern nur gelesen werden. Prekär wird es unter Umständen dann, wenn das, was als Zeichen gedeutet werden kann, über die 24 Buchstaben hinausgeht. Es führt nämlich nicht nur einfach zu einem Zuwachs an Bedeutung, sondern es enthält auch ein destruktives Moment. Eine der schönsten Selbstbezüglichkeiten solcher Zeichenlese findet sich im Schluß von 'Patmos', wo es heißt: 'und [b]estehendes wohl / Gedeutet.', zu dem Wort 'Gedeutet' ist als Anmerkung gesagt: 'markierung unter 'Gedeutet': StA fehlt' (VII 421). Die fragliche Markierung ist schwach zu erkennen: zwei Pünktchen, die dem Herausgeber zum Anlaß erneuter Segmentierung werden. Wobei sich mir allerdings nicht erschlossen hat, welche Markierung welchem Segment zugeordnet wird. Soweit ich verstanden habe, ist der Punkt unter 'Gedeutet' als Teil von
S15715 zu verstehen und führt jedenfalls zu weiteren herausgeberischen Eingriffen Sattlers (VIII 841). Interessanterweise findet sich aber dasselbe Spiel mit den in der 'Stuttgarter Ausgabe' fehlenden Zeichen auch schon in der 'Patmos'-Niederschrift im Homburger Folioheft. Wieder unter dem Wort 'Gedeutet' finden sich dort zwei Markierungen – diesmal immerhin deutlich sichtbar – welche, aufgefaßt als 'aufhebungszeichen' wiederum in 'StA fehlen' (VII 257). Und hier werden sie vom Herausgeber so verstanden, daß sie 'die jetzt auf zwei wörter verkürzte schlußzeile a disponieren' (VIII 943). Anders gesagt, der Schluss von 'Patmos' lautet jetzt nicht mehr: 'Dem folgt deutscher Gesang', sondern endet – wahrhaft performativ – mit dem Wort 'Gedeutet'. Auch wenn mir die Kritik am nationalistischen Beigeschmack eines 'deutschen' Gesangs ebensosehr wie an dem eines 'vaterländischen' sympathisch ist, und mir insofern auch der Verzicht auf den letzten Satz von 'Patmos' nicht so schwer fiele, ist das philologisch alles andere als gut gedeutet.

RR   Die fraglichen Tinten-/Papierphänomene werden häufig ja nicht nur ohne weitere Begründung mit Semantik aufgeladen, sondern haben darüber hinaus gewissermaßen einen übergeordneten Charakter, weil von ihnen redaktionelle Züge ausgehen. Sie liegen also nicht auf derselben Ebene mit dem, was wir in Buchstaben vorliegen haben, sondern regulieren diese: Umstellungen u. dgl. werden Punkten untergeschoben; wenn die Tinte falsch über das Papier läuft, wird daraus auf die Anordnung von Texteinheiten geschlossen, die ihrerseits die Zeichenhaftigkeit des Tintenbefundes unterstützen sollen. Auch hier findet sich eine Rekursion in der Begründung. Zumindest in der ersten Stellung des Gedankens dazu wären diese Sachen nämlich strikt voneinander zu trennen. Wenn ich Asemisches mit Semantik versehe, spiele ich anderes, das semantisch ist, in seiner Bedeutung herunter, weil die Grenze zwischen dem Bedeutungsvollen und dem Bedeutungslosen entfällt.
Daß Sattler sein Augenmerk vornehmlich auf solche Sachen richtet, scheint mir an der Werkchronologie zu liegen, denn diese sind in der Beschreibung Beißners zu kurz gekommen und dort, wo sie regelnd wirkten, gar nicht gesehen worden. So ist in der Tat der Schnitt oben im 'Stuttgarter Foliobuch' als ein ordnendes Moment dieses Heftes übersehen worden. Dieser Schnitt hat an dieser Stelle durchaus eine explizierbare Bedeutung, und man kann zeigen, welche Auswirkungen er hat. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, daß jeder Einriß auch eine Bedeutung haben muß, und wenn ein Defekt des Überlieferungsträgers etwas bedeutet, dann nur nach Einbeziehung der Kontexte, nach Explizierung von Gründen, aber nicht als Generalunterstellung.

GM   In diesen Begriff der Dokumentation reicht schon ein bestimmtes Hölderlin-Verständnis hinein. Als Grundtenor – nicht nur durch diese, sondern auch schon durch vorhergehende Bände – ist wahrzunehmen, daß Sattler Hölderlin unterstellt, er habe eine Geheimsprache geschrieben, die nicht ohne weiteres zu entziffern ist, und wenn, dann durch Kundige, eventuell erst in zukünftiger Zeit. Dieses Muster führt dazu und präpariert die Dokumente so, daß Ansatzpunkte für die vorgebliche Dechiffrierung vorhanden sind. Sie sind für Sattler nur allzu oft Beleg für eine 'verdunkelnde kunst' (VIII 901).

RR   An die Frage, was ist ein Zeichen, schließt sich gleich die Frage an: Was ist ein Segment? Wenn ich es richtig verstanden habe, ist für Sattler das Segment die kleinste bedeutungstragende Einheit innerhalb des Ganzen. Um das Problemfeld zu eröffnen, möchte ich die Situation schildern, in der wir uns befanden, als wir Kafkas 'Oxforder Quarthefte' edierten. In ihnen finden sich Aufzeichnungen, die zum Teil miteinander zusammenhängen, die nicht alle linear hintereinander, sondern auch parallel, teilweise wechselnd von Heft zu Heft geschrieben worden sind. Wir überlegten, was für einen numerus currens wir ihnen geben sollten, damit die größeren Bedeutungseinheiten einen Namen erhalten. Der Vorschlag 'Segment' schien uns unbrauchbar für das, was wir bei Kafka vorliegen haben, weil er ein ganzes Problem in sich bereits aufgelöst enthält, nämlich das Problem des Zusammenhangs der Segmente. Segmente sind Teile, die immer nur im Kontext von Kreisen eine Rolle spielen, bei Hölderlin etwa bei der Stelle mit dem 'hesperischen orbis', die dem Band 8 explizit vorangestellt wird.
Mit der Einteilung in Segmente wird darum immer schon ein Ausgriff auf den Totalzusammenhang genommen. Wir haben uns bei Kafka deshalb dafür entschieden, es 'Aufzeichnungen' zu nennen – denn Aufzeichnungen können ergänzt werden, es können auch welche fehlen, ohne daß wir mit dieser Benennung eine implizite Aussage darüber machen, was das Ganze ist, in dem die einzelnen Aufzeichnungen enthalten sind.
Mir hat sich bei 'segment' zudem folgende Frage aufgedrängt: Wieso orientiere ich die Segmentierung in ihrer einfachen Sukzession von Ordnungszahlen nicht am Material? Das würde den dokumentarischen Charakter dieser Ordnungszahlen unterstreichen. Bei Sattler werden die Segmente jedoch nicht in einer Abfolge, die das Material vorgibt, gezählt, sondern bis zur Undurchschaubarkeit über es verteilt. Dabei hilft auch das Register nicht sonderlich weiter, denn man muß wissen, daß auch Drucktexte wie 'Der Winkel von Hahrdt' als Segmente zählen, aber im Register zu Band 8 nur die Handschriften aufgeführt werden. 'Der Winkel von Hahrdt' zählt genauso als Segment wie das 'l' oder 'und', aber nicht so, daß nach den Zusammenhängen auf der entsprechenden Seite ein numerus currens gemacht wird, sondern schon verquickt mit Deutungszusammenhängen.

WG   Das ist es ja, was die Ausgabe auch so schwer lesbar macht. Beim Lesen möchte man sich eigentlich an den Handschriften, an den Dokumenten orientieren, doch das wird erschwert durch ihre undurchsichtige Durchnumerierung. Band 7 kann man ausgabenimmanent nur über die Segmentierung in Band 8 lesen. Die Segmentierung ist eine extrem aufgeladene, interpretatorische Kategorie, die über die Dokumente gelegt wird. Vieles findet man in Band 7 nicht, wenn man nicht zufällig weiß, wie das Segment anfängt, und das ist sehr lästig.

GM   Das Segment ist in der Tat die grundsätzliche Ordnungseinheit für den Band 8. Es sind insgesamt 288, wobei einzelne bis zu 18mal unterteilt werden, es gibt etwa ein Segment 74,13. Auf der anderen Seite gibt es, zumindest im Vokabular von Sattler, Segmentgruppen. Ich habe nicht recht verstanden, nach welchen Kriterien sich Segmente zu Gruppen zusammenschließen. Darüber hinaus gibt es innerhalb eines Teilsegmentes in der Beschreibung wiederum gesonderte Segmente.
Mit dem Wort 'Segment' verbinde ich zunächst nichts anders als das, was ich als 'Bruchstück' bezeichnen würde. Beim Segment aber ist sicherlich das Ganze, wie Roland es eben dargestellt hat, in der Form des Kreises vorstellbar. Darüber hinaus, und das halte ich für entscheidender, steckt in dem Wort 'Segment' die Art, in der es entstanden ist. Beim Bruchstück ist unklar, wodurch es zerbrochen ist, das Segment hingegen ist durch Schneiden entstanden (von lat. 'secare'). Hier gibt es also jemanden, der das Ganze, vermutlich einen Kreis, geschnitten hat. Das Segment ist also etwas bereits absichtlich Zerteiltes. Wir müssen über das Ganze und über die Instanz sprechen, die diese Teilung vorgenommen hat. Dieses Segment tritt an die Stelle der 'Textstufe', wie Sattler in den zuvor erschienenen Bänden die einzelnen Abschnitte der Entstehung innerhalb der linearen Darstellung nennt, die zu einem Gedicht gehören. Der Begriff der Textstufe entfällt in den Bänden 7/8.

WG   Ich glaube, mit dem Begriff 'segment' wird unterstellt, Hölderlin selbst habe seinen Gesang zerteilt und verstreut, damit er in späterer Zeit wieder zusammengefügt werde. Das ist die editorische Grundannahme für die Textkonstitution in den Bänden 7/8.

GM   Dafür gebraucht Sattler, wie ich meine, das Wort 'fragmentarisieren'. Wir haben schon verschiedentlich auf den Satz aus der Vorrede zu Band 8 verwiesen: 'die fragmentarisierung […] deutet auf einen abschließenden zensus'. Fragmentarisieren meint offenbar den von Hölderlin angeblich bewußt eingesetzten Prozeß des Herstellens eines Segments.

WG   In der editorischen Praxis passiert nun etwas Interessantes: Die ursprüngliche ideale Vorstellung, daß man 288 Segmente hat, reicht nicht aus. Wie bei einer 'historisch gewachsenen' Bibliothek, die mit der Zeit eine immer absurdere Katalogisierung erf ährt, weil bestimmte Sachen beieinander stehen müssen, erhalten die einzelnen Segmente immer wieder zusätzliche Unternummern. 'Friedensfeier' zum Beispiel erscheint als ein Segment, das ein Untersegment von einem Segment ist, nämlich als
S2012 , bzw. S2013 (VIII 638-644). Umgekehrt hat man einzelne Wörter oder Buchstaben, die ein Segment für sich darstellen sollen. Das S190 beispielsweise besteht aus zwei Wörtern: 'dran Schuldig.' (VIII 871), S66 besteht nur aus einem Buchstaben: 'H.', der von Sattler als Abkürzung für Herkules gedeutet wird (VII 711), in der 'Stuttgarter Ausgabe' aber noch ein 'Schnörkel als Federprobe' war (VII 446). Ein weiteres Ein-Buchstaben-Segment ist S2783 , das diesmal von der 'Stuttgarter Ausgabe' als 'h' (VII 377) , von der 'Frankfurter' aber als 'versalie B' gelesen wird. Eigentlich wird das Zeichen aber von Sattler als Zeichnung zweier Flüsse gedeutet, wie man im Kommentar zum Segment erfährt (VIII 985).

RR   'Segment' kann demnach einerseits ein einzelner Buchstabe, andererseits ein kompletter Gedichttext sein, z. B. 'Hälfte des Lebens' im Druck. Manches von dem, was Sattler setzt, begreife ich als kontraintuitiv. Ein Beispiel auf S. 294 (das Segment 101), das in die Zeittafel ausstrahlt (VII 47): Hier geht es um die Gedichte, die später im Wilmanschen 'Taschenbuch für das Jahr 1805' aufgelegt worden sind. Mit erstaunlicher Diktion heißt es in der Zeittafel: 'mit der anscheinend zusammenhanglos über
S931 : 22 'Gebirg hänget See …' notierten minuskel S101 'l' ist die überschrift der palinodie S102 'Hälfte des Lebens' gefunden'.
Auf der fraglichen Seite kann ich zwar erkennen, daß dort etwas oben drüber geschrieben worden ist und es ein 'l' sein soll, aber ich würde erst einmal überlegen, ob das 'l' in den Kontext dieser Stelle gehört. Aus dem, was Sattler expliziert, kann ich nicht erkennen, daß das 'l' in irgendeiner Weise mit der Findung von 'Hälfte des Lebens' zusammenhängt. Wenn irgendwo in dem Gedicht isoliert ein einfaches 'l' gesetzt ist, wie will man dann plausibel herleiten, dieser Buchstabe habe etwas mit 'Hälfte des Lebens' zu tun? Wenn Sattler eine so starke Behauptung aufstellt, kann es nicht sein, daß die Begründung oder Erläuterung umso schwächer wird, je stärker die Behauptung ist. Ich hätte schon gerne gewußt, was er sich bei dieser starken Behauptung gedacht hat. Sie ist alles andere als selbstverständlich. Und ebenso wie das eine Extrem, daß nämlich ein einzelner Buchstabe Segment-Status bekommt, halte ich auch das andere Extrem, daß ich zu etwas, das wie 'Hälfte des Lebens' als Druck in sich abgeschlossen ist, Segment sage, für kontraintuitiv.

WG   'Hälfte des Lebens' ist übrigens noch in einem ganz anderen Sinne 'segmentiert'. Das Gedicht gehört ja eigentlich zu den neun bei Wilmans publizierten Gedichten, die als 'Nachtgesänge' bekannt geworden sind und die für das Spätwerk Hölderlins eine unbestritten programmatische Bedeutung haben, weil er dort bestimmte Formexperimente vorführt, zwischen der gebundenen Form der sechs Oden und der metrisch freieren Form der drei übrigen Gedichte. In der FHA werden diese Gedichte voneinander getrennt. Es kommen nur die drei, dann zum guten Ende auch noch als 'paralipomena' bezeichneten (VIII 756), metrisch nicht erkennbar gebundenen Texte aus den neun, wahrscheinlich von Hölderlin selbst durchnumerierten Gedichten zum Abdruck; die andern sechs sind in den 'Oden'-Bänden zu suchen, wie im übrigen schon bei Beißner. Auch das ist ein Auswuchs des unseligen 'Segment'-Denkens. Die Vorstellung des Herausgebers, die Grundidee von Hölderlin erfaßt zu haben, ist so stark, daß sich jedes 'segment' wie unter einem starken Magnet zurechtbiegt, um diese Grundidee zu bestätigen. Da das Material selbst aber – ich meine das in einem ästhetisch positiven Sinne – chaotisch ist, entsteht über die herausgeberisch behauptete oder verfügte Hyperlogik eine eher bedrückende Unlesbarkeit, gerade in diesen beiden Bänden.

RR   Wir haben festgestellt, daß Sattlers Hypothese Zahlenregularitäten unterstellt. Hölderlin reflektiert teilweise selbst auf Zahlenverhältnisse, und zwar so, daß bestimmte Zahlenvorstellungen gerade dann, wenn man sie erwartet, nicht eingelöst werden. Wir haben es mit Texten zu tun, die nicht vor der Frage: Regularität oder Irregularität stehen, sondern die dieses Verhältnis zu ihrem Thema haben. Der klassische Fall ist 'Andenken'. Wenn es nach Sattler ginge, müßte das Gedicht wahrscheinlich 60 Verse haben, und nicht 59, bestehend aus vier Strophen zu 12 Versen und einer zu elf. Die Wahrnehmung gerade eines solchen Gedichtes sollte flexibler machen für die Einschätzung metrischer und zahlenspezifischer Verhältnisse. Man kann nicht anhand einer Fixierung auf runde Zahlen Konstruktionen unterstellen, sondern man muß den Zusammenhang der äußeren Formalitäten und der Semantik des Ausgesprochenen ref lektieren.
Es ist signifikant, daß gerade bei 'Andenken' die Defizienz in der Zahlengestalt, wenn man es überhaupt so sagen will, mit dem emphatischen 'Was bleibet aber, stiften die Dichter' einhergeht. Da gibt es einen Konnex, daß ausgerechnet diese Strophe elf und nicht zwölf Verse hat. Der abschließende, ebenmäßige Charakter, den man bei zwölf Versen hätte, wird gerade durch die Form unterlaufen. Solche Sachen lassen sich nicht kontextübergreifend und pauschal für alle Gedichte klären, sondern verlangen den Einstieg in die jeweiligen Gedichte und die Prüfung des individuellen Sachverhalts. Zahlenspekulationen interessieren mich sehr wohl, nur darf man dabei nicht so naiv sein und meinen, sie seien kontextinvariant. Gerade bei Zahlen ist der irreguläre Ablauf das eigentlich Interessante.
Nun aber zu der Art der textgenetischen Darstellung, wie sie bereits in den Umschriften gegeben wird. Mir ist aufgefallen, daß bereits in der Kolumne am Kopf der Seite und in den gegebenen Annotationen stark vom Dokumentarischen abgewichen wird. Die Seiten sind polyperspektivisch gestaltet; diese Polyperspektivik erkennt man schon daran, daß ich am Kopf der Seiten Verweise auf die Segmente habe. Die Nützlichkeit dieser Verweise bezweif le ich, denn sie tragen nichts zum besseren Verständnis bei, sondern machen die Seite nur unübersichtlicher.
Zweitens haben wir unten extensiv Annotationen über die Unterschiede zur 'Stuttgarter Ausgabe', was mich im Grunde gar nicht interessiert, aber das ist wahrscheinlich aus der Geschichte der Ausgabe erklärbar. In dem deskriptiven Teil finden sich jedoch immer wieder Momente der Deutung. Das betrifft die Auszeichnung innerhalb des Textes – manches erscheint in Fettschrift –, aber vor allem asemische Vorkommnisse im Manuskript, die semantische Bedeutung zugewiesen bekommen.
Drittens gibt es bestimmte Darstellungsformen, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie vom Editor der Transkription implantiert worden sind oder ob sie der Handschrift tatsächlich inhärent sind. Ein wichtiges Beispiel finde ich auf S. 350, das insofern vorbelastet ist, weil es im Einleitungsband der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe quasi als Motto abgedruckt war: '(und mich leset) […] ihr Blüthen von Deutsch/(l)Land'. Ich habe immer wieder versucht, in der Handschrift das Wort 'Deutschland' so zu lesen, wie Sattler es transkribiert hat. Ich kann darin beim besten Willen weder eine Virgel noch ein Zeichen für einen Zeilenbruch erkennen. Das Wort 'Deutschland' steht normal in einer Zeile. Wenn an dieser Stelle ein Zeilenbruch von Hölderlin angezeigt wäre, dann haben wir mindestens 999 weitere Instanzen, in denen es eigentlich auch angezeigt werden müßte.
Die Bedeutung dieser Stelle liegt darin, daß Sattler Einwände gegen die Rede von Versen hat. Dann spricht er, dem entgegen, davon, daß Hölderlin das Kunstmittel der Zeilenbrechung im Wort anwendet (VIII 540). Ich habe den Eindruck, daß die Transkription, die Sattler hier gibt, einen von ihm selber erst produzierten Eingriff wiedergibt, der in der Handschrift so nicht aufzufinden ist. Falls man tatsächlich die Existenz von so etwas behauptet wie einer Zeilenbrechung im Wort und diese ein Kunstmittel wäre, sollte man zunächst einmal erläutern, wie überhaupt bei Hölderlin das Verhältnis von Vers und Zeile ist. Mit einer einfachen Behauptung ist es nicht getan. Da das in der Handschrift so nicht zu lesen ist, werden mit der Rede von der Zeilenbrechung im Wort die eigentlichen Fragen auf einen Nebenschauplatz abgedrängt: Wie werden aus solchen Notizen Verse? Wie wird daraus ein Gedicht?
Auf der einen Seite in der Konstruktion des Bandes keinen Akzent auf die semantische Kraft der Versgrenze zu legen, auf der anderen Seite das Theorem zu statuieren, es gebe bei Hölderlin so etwas wie eine intendierte Zeilenbrechung im Wort (nicht intendiert gibt’s das ja in jeder Tageszeitung), nun ja, das ist ein bisserl eine arge Zumutung.

WG   Ich denke, hier ist eine bestimmte Deutung von Hölderlin am Werk, nämlich diejenige, daß Hölderlin sich aus allen Konventionen des Schreibens und des Dichtens gelöst habe. Das ließe sich vielleicht mit den Wilmans-Briefen begründen, wo Hölderlin von einer 'noch kinderähnlichen Kultur' spricht, in der sich der Dichter opfert. Diese 'noch kinderähnliche Kultur' entspräche die traditionelle Verssprache, während die eigentliche Dichtung der 'Vaterländischen Gesänge' darüber hinausginge. Meines Erachtens wäre es aber ganz kurzschlüssig, zu denken, daß darum Verssprache und Metrik verabschiedet seien.

*

Ich versuche nun an dieser Stelle einen Übergang von Band 7 zu Band 8, dem eigentlich editorischen Geschäft, und setze bei den akribischen Neulesungen an, bei denen man manchmal den Verdacht nicht los wird, sie seien nur um des Anderslesens willen da, so etwa in der Notiz bzw. dem für sich stehenden Vers in dem 'Warthäuser-Fragment' von 'Der Einzige'. In der Handschrift steht: 'Von Gott aus gehet mein Werk.' (VII 476) In diesem Wortlaut und als eine Art Kommentar zu 'Der Einzige' wurde die Stelle jedenfalls bisher immer gelesen. Sattler dagegen liest: 'Vor Gott aus gehet mein Werk' und versieht das 'vor' mit der Signatur ' DES ' (VII 477), die sich im übrigen auch bei der vorhin erwähnten Stelle 'Deutsch/(l)Land' findet. Überprüft man dies in der Handschrift, so läßt sich sowohl 'n' als auch 'r' lesen. Der neue und wie ich meine agrammatische Satz wird in FHA 8 als S129 geführt und führt auf die S. 785. Dort heißt es dann: 'die zeile schließt den satz S130:85. 86 … 'Nemlich frisch // Noch unerschöpfet und voll mit Loken,': sie wurde vmtl mit dem nicht überlieferten entwurf zu dieser teilreinschrift auf der rückseite des noch leeren, dann die reinschrift ß S1331 aufnehmenden doppelblatts 313 notiert; vgl 'Dichterberuf ' V B 61. 62 'Fruchtlos bleibet aber, so er muß, der Mann / Einsam vor Gott …' (bd 5/561)'. Wenn man jetzt in dem folgenden 130 die Verse 86f. anschaut, findet man zu 'Noch unerschöpfet und voll mit Loken,' die Bemerkung: 'zu dem quadratisch ausgemalten einweisungszeichen über dem komma nach Loken vgl S129 'Vor Gott ausgehet mein Werk.' und die redaktion der schlußepode S1401 ' (VIII 787). Geht man nun zu S1401 , dann kommt man zu dem editorischen Endergebnis: 'Noch unerschöpfet und voll mit Loken, / Vor Gott aus gehet mein Werk. / Der Vater der Erde freuet nemlich sich deß' (VIII 798). Hier findet sich ein Segment, das aus zwei Handschriftenzeugen – man muß wohl sagen – zusammengestoppelt ist.

RR   Zu den Sattlerschen Entzifferungen, die Abweichungen transportieren, ließe sich im allgemeinen die Schleiermachersche Maxime ins Feld führen, daß hier behaupten mehr ist als beweisen, weil es uns dazu führt – und so scheint mir Sattler sein Vorgehen angelegt zu haben –, daß wir an Stellen Anstoß nehmen, die vorher vom Verstehen durch Automatismus geschluckt worden sind. Insofern bin ich erstmal durchaus nicht dagegen, an dieser Stelle zu sagen, es könnte auch heißen: 'Vor Gott aus gehet mein Werk.' Ich finde es hingegen nicht ausreichend, daß man es oben in die Entzifferung einsetzt und denkt, man sei der Auseinanderlegung der beiden semantischen Pfade, denen man folgen könnte, enthoben, indem man unten notiert, Beißner habe 'von' gelesen.
Bei solchen Stellen braucht man eigentlich eine ausgiebige Erläuterung, die auch den Grund explizieren müßte, warum Sattler der Ansicht ist, daß Hölderlin an dieser Stelle eine befremdliche Verschiebung der Perspektive vorgenommen hat. Zu unterstellen, daß Hölderlin eine solche Verschiebung vornehmen könnte, finde ich an sich nicht skandalös. In 'Der Winkel von Hahrdt' gibt es ja auch diese eigenartigen Konstruktionen, bei denen einzelne syntaktisch an sich notwendige Momente fehlen, und dann muß man reflektieren, was es bedeuten könnte, daß sie fehlen. Auszuschließen sind solche Verschiebungen nicht. In der Tat schwankt dieses Graphem – wie allerdings häufig bei Hölderlin – zwischen 'n' und 'r'. Auch weil er, wie Heidegger wohl sagen würde, ein Leitsatz ist, der dort niedergeschrieben ist, verlangt es nach einer ausführlichen Erörterung, weshalb man sich für diese und nicht die andere Lesung entscheidet.

WG   Es ist ja so, daß diese Zeile, die für sich steht, im Grunde rätselhafter ist, als wenn man die Zeile, wie hier versucht wird, in einen Text integriert, wo sonst eine Lücke wäre. Es ist der Versuch, etwas zu glätten, wobei in Kauf genommen wird, daß der Satz bei aller Hermeneutik keinen Sinn mehr ergibt.

RR   Der Unterschied der Lesungen ist der folgende: Bei dem einen Mal wird gesagt, daß Gott das Prinzip ist, aus dem heraus die Dichtung oder sein Werk fließt – und diese Lesart deckt sich völlig mit dem von Hölderlin in einem Brief an seinen Bruder mehrfach beschworenenen Motto: 'A deo principium'. Im andern Fall meint die Stelle, daß angesichts Gottes das Werk verstummt oder nicht mehr existent ist. Insofern handelt es sich hier um eine überaus brisante Stelle, die nicht einfach durch Entzifferung geklärt werden kann, sondern durch Problematisierung erörtert werden muß. Gerade wenn man sagt, dieser Satz stehe wie ein Leitsatz über den Überlegungen des späten Hölderlin – wobei noch zu fragen wäre, an welcher Stelle er seinen Platz hätte innerhalb eines Gedichtes und in welchem Kontext –, und wenn dieser Satz verschieden entziffert werden kann, dann sollte man an dieser Stelle eine ausführliche Erörterung erwarten. Um meine Kritik an den Bänden 7/8 zusammenzufassen: Ich finde es schade, daß die Überlegungen Sattlers während seiner editorischen Arbeit nicht in einem Vorlauf band expliziert oder zur Diskussion gestellt worden sind.
Dazu gehört auch die Frage, wie man mit Schwankungen umgeht. So wie es innerhalb des ganzen handschriftlichen Konvoluts so gut wie keine Stelle gibt, die nicht dem Zwang zur Integration unterliegt – obwohl wir an vielen Stellen unsicher sind, ob sie hier oder dorthin gehören –, so finde ich es auch bei den Entzifferungen das eigentliche Problem, daß es das Moment des Zögerns und der Unentschiedenheit in der Fixierung von Gedanken eigentlich nicht geben darf. Und an der fraglichen Stelle kann man nicht einfach qua Befund entscheiden, ob es ein 'n' oder ein 'r' ist. Man muß das dann Entzifferte nicht unbedingt mit einem Fragezeichen versehen; das ist nur die eine Möglichkeit, die andere besteht darin, oben eine Lesung festzusetzen und unten die andere, gleichermaßen mögliche Lesung zu vermerken. Das hätte zudem den Vorteil, auch auf die Bedeutung einer solchen Lesung hinzuweisen. An der Stelle aber, wo Semantik ins Spiel kommt und Kontexte ansatzweise erörtert werden, ist bei Sattler die Alternativ-Lesung nicht mehr existent, und damit auch nicht die Konsequenzen, die sich aus beiden Lesungen für Hölderlins Selbstverständnis ergeben.

GM   Wenn ich mir die Handschrift anschaue, so kann ich mir schon vorstellen, wie Sattler zu seiner Lesung gekommen ist. Es fehlt für das 'n' nämlich ein zweiter Haken, der auslaufende Schriftzug geht tatsächlich so hoch, wie Hölderlin zumeist ein 'r' gemacht hat. Wenn auch sicherlich eine Lesung 'von' nicht auszuschließen ist, so spricht schon einiges für 'vor'. Was mir in diesem Fall jedoch bemerkenswert erscheint, ist, daß Sattler nicht nur unterläßt, eine Lesungsalternative zu diskutieren, sondern – im Fall der Lesung 'vor' – nicht im mindesten mit der Möglichkeit rechnet, daß Hölderlin etwa zunächst einen anderen Satzverlauf im Sinn hatte und mitten im Schreiben dann die Satzkonstruktion veränderte. Durch die textkonstituierende Aktivität des Herausgebers in der linearen Darstellung wird jetzt so eine, sagen wir, 'Fehlleistung' des Autors – es kann auch sein, daß bei Hölderlin zwei verschiedene Gedanken zusammenlaufen – plötzlich festgeschrieben und zu einer absichtlichen Fügung gemacht. Das finde ich überaus problematisch. Eine Ausgabe müßte einen solchen Befund des harten oder gar inkorrekt erscheinenden Textverlaufs ganz anders signalisieren und auf jeden Fall jeden Eindruck des Fertigen, Abgeschlossenen vermeiden, damit der Bruch als Bruch deutlich bleibt. Wenn jedoch der brüchige Entwurfstext dann sogar vier- oder fünfmal in Sattlers Konzept des 'kumulativen Textes' wiederholt und damit der Text in Richtung auf Vollkommenheit sukzessive weiter vervollständigt wird, scheint mir das Vorläufige des Entwurfs, das nur flüchtig Hingeworfene, verloren zu gehen. Für Sattler hat alles, was Hölderlin irgendwo hinschreibt, einen erstaunlichen Grad von Endgültigkeit. Vorläufiges gibt es da nicht, alles Niedergeschriebene hat unumstößliche Geltung. Durch diese Art der editorischen Verzeichnung erhält auch diese (mögliche) Lesung 'Vor Gott' ein solches semantisches Schwergewicht.

RR   Diesen Zug sehe ich im Zusammenhang mit Sattlers Ausschließung von Kontingenz: Der Gedanke, daß eine Fluktuation, ein Schwanken stattfindet, wird nicht akzeptiert, wodurch editorisch ein stark dezisionistischer Akzent gesetzt wird. Man braucht sich nur anzusehen, was Sattler über den Gedichttitel 'Die Entscheidung' schreibt. Man gewinnt den Eindruck, daß auch alles, was dort steht, entschieden ist, und zwar nicht vom Editor, sondern von Hölderlin, wobei der Editor derjenige ist, der die Entscheidung nach außen sichtbar macht. Das deckt sich nicht mit den Erfahrungen, die ich mit den Hölderlin-Handschriften und überhaupt mit schriftlicher Fixierung gemacht habe. Es heißt auch, den Möglichkeitsspielraum, den jemand beim Schreiben hat, unnötig einengen, wenn man unterstellt, daß alles, was er schreibt, entschieden sei. Dann hätte man nur noch als Entwürfe getarnte Reinschriften vorliegen. Wirkliche Entwürfe wären sozusagen qua Prämisse abgeschafft.
Zunächst würde ich in solchen Situationen versuchen, mit der Hypothese auszukommen, daß Stellen denkbar sind mit einer größeren, einer geringeren und gar keiner Dichte der Entschiedenheit im Wortlaut. Eine Edition könnte dann erörtern, wo solche Stellen jeweils vorliegen, einmal abgesehen davon, daß hier irgendwie auch der Spruch repetiert wird, Hölderlin habe kein falsches Wort geschrieben. Das kann sogar zutreffen, nur meint Falschheit etwas anderes als Unentschiedenheit. Es kann ja zum Richtigen dazugehören, daß an einer Stelle gezögert und eine Alternative sichtbar wird, die in der Entzifferung als Entzifferungsproblem auftaucht. All das im Vorfeld auszuschließen heißt, daß eine bestimmte Dimension der Selbstverständigungsbewegung, die im Schreiben stattfindet, wegfällt. Ich sehe an dieser Stelle nicht, daß Sattler hier einfach falsch entziffert, sondern daß er ein Problem der Entzifferung auf die denkbar schlichteste Weise angegangen hat, indem er seine Existenz leugnet.

WG   Noch ein Wort zur Entzifferung: Daß die Entschiedenheit im Haupt des Dichters als eine nicht mehr zu hinterfragende Eigenschaft Hölderlins vorausgesetzt wird, hat zur Konsequenz, daß auch der Herausgeber immer einen eindeutigen Text präsentieren zu müssen glaubt, sonst wäre er ja seinem Gegenstand nicht adäquat. Das führt mich zu einer Stelle in der vorhin schon einmal beigezogenen Handschrift. Es handelt sich um diejenige mit dem gebrochenen 'Deutsch/(l)Land' (VII 350). Dort findet sich die Bleistiftnotiz: 'dem Leuen gleich,'. Beißner liest 'der lieget / In dem Brand / Der Wüste', die 'Frankfurter Ausgabe' liest: 'luget'. Da Sattler hier der Löwe an der Bursa in Tübingen vorschwebt, kann er eine andere Lesung, die vor mehr als zehn Jahren einmal gleichzeitig von Dieter Burdorf und von mir ins Spiel gebracht worden ist, nämlich daß der Löwe eventuell 'lüget', gar nicht denken. Ich will gar nicht behaupten, daß der Löwe jetzt unbedingt lügen muß, aber graphisch ist diese Lesung mindestens ebenso evident wie 'luget'. Beide Entzifferungsalternativen wären in dieser Form bei Hölderlin hapax legomena. Warum wird in der FHA mit einer Neulesung definitiv gesagt, daß der Löwe 'luget'? An dieser Stelle könnte man in der Tat mehrere Lesungen anbringen, und dann müßte man überlegen, in welcher Lektüre welches Wort als eine angemessene Entzifferung gelten kann.

RR   Ich komme nochmals auf das Problem der Segmentierung zurück und zu der Frage, warum beispielsweise das Wort 'Werkkomplex' nicht vorkommt. Ich habe hierzu keinen endgültigen Gedanken, möchte aber einen Einstieg wählen, der ein wenig Aufschluß verspricht. Die Handschrift findet sich auf S. 235. Das ist ein Zusammenhang, bei dem Sattler nach und nach versucht, etwas in einen Zusammenhang hineinzuziehen, der meines Erachtens ausschließlich an semantischen Spekulationen, nicht an materialen Befunden hängt.
Der Zusammenhang, um den es hier geht, ist derjenige von 'Andenken', von dem Sattler behauptet, es sei eine Art Eröffnungsgedicht (wir erfahren aber nicht so recht, was es eröffnet). Von dem Blatt von S. 234 schreibt er zunächst nur, daß Hölderlin hier Notizen gemacht hat, die später in 'Andenken' nochmal aufgenommen werden: 'das auf p 73 des folioheftes entworfene
S64 'Viel thuet die gute Stunde …' stellt das material zum ersten, nicht erhaltenen, vom späteren druck vmtl abweichenden 'Andenken'-entwurf [1-48] bereit' (VII 43). Darauf kommt er, weil darin von der 'Charente' die Rede ist. Später wird auf eben dasselbe Fragment Bezug genommen, nämlich auf S64, indem gesagt wird: 'vollzogene eingliederung der palingenetischen bewegung des 'Andenken'-konzeptes S64' (VII 45).
Zunächst wird also noch vorsichtig gesagt,
S64 stelle das Material zu einem Entwurf dar, der nicht erhalten ist. Zwei Seiten später wird festgestellt, dies sei das 'Andenken'-Konzept selber. Wir haben hier eine Mutation vorliegen: Das Material zu einem Konzept wird kurz darauf selbst zu dem Konzept. Bei Hölderlin gibt es Aufzeichnungen, die auf seinen Frankreich-Aufenthalt zurückgehen. Weil sie auf den Frankreich-Aufenthalt zurückgehen, ist meine erste Frage: Muß es dann automatisch bedeuten, daß sie zu 'Andenken' gehören?
Auf S. 346 findet man dann etwas Eigenartiges, nämlich unter
S1601 den von Sattler gegebenen Titel: 'Zur Märzenzeit', folglich ist es ihm die Vorstufe zu 'Andenken'. Das Wort 'Märzenzeit' kommt auf dieser Seite aber gar nicht vor, sondern nur in 'Andenken'. Die Agglomeration von semantischen Feldern führt dazu, daß eine Identifikation von Werkkomplexen vorgenommen wird. Der Befund gibt sie nicht her, sondern nur Notizen für ein Gedicht, das sich aus bestimmten Frankreich-Assoziationen auf baut. Aber deshalb diese Stelle hier zu einer Vorstufe von 'Andenken' sozusagen herabzusetzen, hat mit der philologischen Darstellung dessen, was überliefert ist, nichts zu tun.
Also nochmal: Zuerst wird ganz vorsichtig formuliert:  v e r m u t l i c h  sind es Notizen für das nichterhaltene Konzept. Bereits auf der nächsten Seite ist es bereits mit diesem identifiziert worden. Und durch die Übertitelung 'Zur Märzenzeit' wird es zu einer Vorstufe von 'Andenken'. In dieser Darstellung haben wir einen reichlich gewaltsamen Versuch, vermittelt über äußere Assoziationen von Vorstellungskomplexen, durch die Rede von der 'Charente' und vom 'Nordost' – dies besagt aber bei genauerer Betrachtung gar nichts: Wir haben bei Hölderlin semantisches Material, das an verschiedenen Stellen auftaucht. Weil die Schwäne an der einen Stelle vorkommen, muß 'Menons Klagen um Diotima' nicht in denselben Werkkomplex gehören wie 'Hälfte des Lebens'. Das können wir nicht entscheiden; das einzige, was man sagen kann, ist, daß es eine Nähe im semantischen Material zu 'Andenken' gibt. Es wird aber bei Sattler von Seite zu Seite stärker assoziiert. Anscheinend impliziert die Aufeinanderfolge der Seiten in der Edition selbst einen Prozeß, nämlich der zunehmenden Agglomeration von Vorstellungskomplexen.
Um jetzt nicht mißverstanden zu werden: Ich halte Sattlers Assoziation für interessant und debattierenswert, aber sie als bares Faktum gleichsam zu generieren, finde ich nicht in Ordnung. Man kann nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen die persönlichen Vorlieben für die Vorlieben des Autors ausgeben. Natürlich wird es in der FHA mit dem Anspruch auf Sachadäquatheit vorgetragen, auch von Sattler, aber es wird die Differenz zur persönlichen Vorliebe nicht mehr gemacht. Das obige Beispiel ist exemplarisch für diese Tendenz der nachträglichen Verifikation durch Erschleichung von Zusammenhang. Bei 'Andenken' ist dieser Zusammenhang recht übersichtlich. Je undurchsichtiger es wird, desto schwieriger wird es, die Einzelschritte, die zu ihm geführt haben, zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang sollten wir einen Begriff erörtern, der in den Bänden 7 und 8 immer wieder eine Rolle spielt und der mit Sattlers Vorstellung von
a- und b-Versionen direkt zusammenhängt. Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, was das Ursprungsmoment für die Einführung der Rede vom 'Doppelgesang' war.

WG   Nun, zunächst gibt es da eine – etwas versteckte – Stelle in der Zeittafel, die als Keimzelle dieser Konzeption zu verstehen wäre: 'die unterstreichung von 'weltlich' in den schlußzeilen des
S622: [101. 102] 'Die Dichter müssen auch / Die geistigen weltlich seyn.' disponiert die zweizügige, die Verschiedenheit der Meinung (89)' – hier bezieht sich Sattler auf eine nur als Regest überlieferte Brief bemerkung Sinclairs – 'berücksichtigende ausführung a b dieses und so auch der elf anderen beidseits des wassers wachsenden gesänge' (VII 40). Das S622 – das materialiter lediglich aus der Unterstrichelung der beiden letzten Wörter des Entwurfs zu 'Der Einzige' im Homburger Folioheft besteht (VII 238) – hat demnach Schlüsselfunktion. In Band 8 liest man, daß diese Unterstrichelung 'die doppelgestalt der 12 'hesperischen gesänge'' disponiere … Aber im Grunde weiß ich es auch nicht genau – abgesehen davon, daß es die bekannte Vorstellung von exoterischer und esoterischer Lehre fortsetzt. Es gibt das wesentlich Esoterische, das sind die b-Versionen. Im Vorwort zu der Begleitedition, den 'Hesperischen Gesängen', heißt es: 'auf das proömium 'Andenken' folgt hier die erste der beiden in vier gesangstriaden gegliederten gruppen der zwölf 'hesperischen gesänge'; sie unterscheidet sich von der zweiten gruppe der b-versionen durch ihre weltlicher rezeptivität mehr angepaßte und von der geistigeren version in umfang und wortlaut dezidiert abgesetzte gestalt.' Das lese ich als den Versuch, einen esoterischeren Hölderlin zu restituieren. Es ist eine Werkvorstellung mit parareligiösem Charakter. Ausgelöst sein könnte es dadurch, daß es Entwürfe wie z. B. 'Der Einzige' gibt, die tatsächlich in zwei Richtungen weisen und sozusagen in sich eine Entscheidung darstellen: es gibt den einen Schluß und es gibt einen andern. Das stellt für eine Edition, die derart auf Entschiedenheit aus ist, ein Problem dar: Jetzt sind wirklich zwei Textvarianten vorhanden! Die editorische Lösung: diese Struktur muß aufs ganze Werk erweitert werden. Es wird systematisiert, indem nun alle zwölf rekonstruierten Gesänge in einer a- und b-Version vorliegen.

GM   Am klarsten wird mir diese Konzeption der Doppelversion noch an 'Mnemosyne'/' Die Nymphe', wobei zu fragen ist, ob man es wirklich so machen kann, wie Sattler das hier sich stellende Problem löst. Auf diesem Blatt 91 im 'Homburger Folioheft' (und entsprechend schon auf dem separaten Entwurfsblatt) kommen mindestens zwei Konzeptionen zueinander, die man ganz schwer auseinander sortieren kann. Man hat den Eindruck, als ob in dieser Handschrift mehrere in sich geschiedene Vorstellungseinheiten zusammenstoßen, ohne daß der Autor – etwa durch Streichungen – deutlich werden läßt, was nun endgültig gelten soll. Er weiß es offenbar selber nicht, und es bleibt also das anscheinend Sich-Ausschließende nebeneinander stehen. Das zeigt sich schon im Titel: Zunächst heißt es in der Handschrift 'Mnemosyne.', dann setzt Hölderlin 'Die Nymphe.' darüber, ohne etwa die darunter stehende Überschrift zu tilgen. Ich würde es sehr viel ernster nehmen als etwa Beißner, wenn Hölderlin, wie in diesem Fall, die Streichung unterläßt. Auch in den nachfolgenden Niederschriften bleiben miteinander unvereinbar erscheinende Texte nebeneinander bestehen, laufen zum Teil ineinander und übereinander, ohne daß etwa ein darunterstehender Text getilgt wird und man einen Ersetzungsvorgang vor Augen hat. Es zeigt sich, daß sich offenbar zwei graphisch und dann auch konzeptionell unterschiedliche Schichten überlagern. Ich selbst versuchte mir immer eine Erklärung in der Weise zu geben, daß hier Hölderlin eine überaus große Spannung innerhalb eines Sinnentwurfs zum Ausdruck bringen möchte, etwas, das mit den überkommenen Möglichkeiten des Schreibens und Redens nicht mehr gefaßt werden kann. So scheint er mir in unserem Beispiel von dem gewohnten Konzept der Schriftlichkeit eines Gedichtes, einer Literatur, abzugehen und auf dem Blatt verschiedene Gedankendimensionen ineinander zu schieben; es könnte sich quasi um eine revolutionäre Art der dichterischen Fixierung von Sinnvorstellungen handeln, die über das Traditionelle hinausgeht. So etwas mag auch Sattler vorgeschwebt zu haben; er bringt es freilich durch seine systematisierende Aufteilung in
a- und b-Versionen in eine ganz andere Richtung.
Indem man nämlich, wie Sattler es macht, die Versionen des 'Doppelgesangs' vollkommen voneinander trennt – darum wunderte ich mich, daß er in den 'Hesperischen Gesängen' die Doppelgesänge nicht gegenüber, sondern in zwei Abteilungen stellt –, hebt man diese ungeheure Spannung, die in Hölderlins späteren Entwürfen steckt, auf. Darum hätte es m. E. auch näher gelegen, in der Sammlung der 'hesperischen Gesänge' die Doppelgesänge synoptisch gegenüberzustellen, statt sie in zwei Abteilungen zu separieren. So, wie Sattler das diff izile editorische Problem löst, hat man nicht mehr vor Augen, daß es etwa beim Gedicht 'Der Einzige' zwei gegensätzliche Verläufe gibt oder daß der dem Tod nahestehenden 'Mnemosyne' die Nymphe, die Fruchtbarkeit und neues Leben verspricht, an die Seite gestellt wird. 'Aber es haben zu singen …' Es sind zwei Antwortmöglichkeiten, die Hölderlin nicht ausschließen kann und auch nicht will, sondern die in Kollision geraten, und diese Kollision will er, wie ich meine, auch zum Ausdruck bringen. Das könnte für mich das Konzept des Doppelgesangs begründen. Die Frage bleibt, wie man es editorisch umsetzen kann. Sattlers Weg der Doppelgesänge scheint mir dem überlieferten Material wenig angemessen zu sein.

RR   Es ist immer die Gefahr, daß man zu viel Rationalität in der Entscheidung für eine Begrifflichkeit unterstellt. Zunächst scheint mir der Begriff 'Doppelgesang' eingeführt worden zu sein im Kontakt mit konventionellen Vorstellungen von innerer und äußerer Kirche, was auch die platonische Schule hatte: die geschriebene und die ungeschriebene Lehre. Entzündet hat es sich wohl an zwei Gedichten, an denen Hölderlin gearbeitet hat, nämlich an 'Der Rhein' und 'Patmos'. Daß man hier über die verschiedene Form der Ausführung nachdenken muß, macht das Material selbst erforderlich, weil die verschiedenen Ausführungen der Gedichte mit verschiedenen Widmungen versehen waren. Je nach Empfänger sind verschiedene Richtungen in der Niederschrift beschritten worden, so daß man eine Spaltung sehen kann, die allerdings nichts mit dem Esoterischen und Exoterischen, nichts mit Geheimlehren, die die Rede vom Doppelgesang ins Spiel bringt, zu tun hat. Vielmehr erhält sie ihren Akzent von der Kommunikativität, welche so ein Gedicht eröffnen will. Die Differenziertheit der Gedichte ist mit Bezug auf ihren Empfänger eingetreten, und deshalb kann man daraus kein allgemeines Konstruktionsprinzip ableiten. Der Angesprochene, auf den die Gedichte zugeschrieben sind, gehört zur Gestalt des Gedichts prägend hinzu. Wenn ich umgekehrt  k e i n e  Information habe, wem ein Gedicht gewidmet ist, greift das Konzept nicht mehr. Ich kann dann auch nicht konstruieren, das eine sei exoterisch und das andere esoterisch.

WG   Man kann das aber auch ganz nüchtern sehn: Hölderlin hat bei 'Patmos' das eine Gedicht dem Landgrafen von Homburg übergeben und das andere eben weiter bearbeitet.

RR   Dasselbe ist mit Heinse und Sinclair. Wenn man die kommunikative Situation als eine Sache ernstnimmt, die für die Entstehung der Gedichte entscheidend ist, dann kommt man nicht auf die Assoziation von geheimer und öffentlicher Lehre, sondern darauf, daß diese Gedichte als bezogen auf verschiedene Personen verschieden gestaltet worden sind. Man kann dann fragen: Was bedeutet es, wenn jemand auf einmal denkt, daß seine Gedichte nicht mehr auf Personen bezogen sind und keinen Adressaten haben. Dann entfällt bloß der Bezug, wodurch es nicht als Konstruktionsprinzip übernommen wird. Man könnte sich auch vorstellen, daß ein Text wie 'Patmos' an drei Personen gerichtet wäre – es ist denkbar, daß Teile verschollen sind –, dann sähe das Gedicht wiederum anders aus. Weil zwei Widmungen erhalten sind, wird geschlossen, daß nur zwei Widmungen existieren können, so daß man dann ein Strukturprinzip abheben kann, das sich auf das gesamte Werk in der Spätphase abbilden läßt – wobei zudem der kommunikative Bezug nicht weiter ref lektiert wird. Bei 'Mnemosyne' steht 'Mnemosyne' und 'Die Nymphe': Schon die Behauptung, daß beides zu einem Gedicht gehört, ist alles andere als selbstverständlich. Beide Entwürfe (wenn man so sagen kann) stehen aber graphisch versetzt auf dem Papier, wie wenn man zwei Orgelpfeifen ineinander verhakt. Ob es nun zwei Orgelpfeifen sind oder eine, die zwei Richtungen hat, das kann man gar nicht entscheiden.
Es gibt keinen einfachen Weg von der doppelten Gestalt von 'Der Rhein' je nach Adressaten zu dieser eigenartigen Weise, in der auf der 'Mnemosyne'-Seite 92 die Sachen nebeneinander stehen. Dies in Parallele zu 'Der Rhein' oder 'Patmos' zu setzen und auch hier als Ordnungssystem das nicht sonderlich elaborierte Konzept Doppelgesang zu nehmen, achtet sehr gering, daß es sich hier um divergente Schreib- und Vorstellungsverhältnisse handelt.

GM   Wieso soll eigentlich Sinclair das Exoterische sein und Heinse das Esoterische? Das habe ich nicht begreifen können.

RR   Das ist der Versuch, editorisch mit dieser Gestalt der Situativität dieser Texte, deren Bezug auf die Empfänger, umzugehen. Im Grunde wird durch die Vorstellung, daß es wechselseitig voneinander Varianten sind, durch den Begriff des Doppelgesangs eliminiert, daß diese Gedichte – um es so stark wie möglich zu pointieren – nicht für Sattler geschrieben sind. Durch den Bezug auf Heinse oder Sinclair sind es andere Gedichte, die nur noch denselben Titel haben. Außerdem stehen die Widmungen nicht über, sondern nach dem Titel, und d. h. doch: sie gehören integral zum Gedicht. Dadurch haben wir eine andere Situation als etwa beim Entwurf 'Mnemosyne', wo kein externer Kommunikationspartner angesprochen wird. Bei 'Mnemosyne' stellt Sattler zudem das, was dort ineinander verkantet ist, wiederum chronologisch entzerrt dar. Die Chronologie ist aber hier – wie auch sonst – nur ein äußerliches Ordnungprinzip, das über den immanenten Auf bau von Gehalten niemals entscheiden kann.

WG   Das Ganze ist – und das wird erst deutlich über die Ausgabe der 'Hesperischen Gesänge' – der Versuch einer  K a n o n i s i e r u n g  von Hölderlins Werk. Damit überholt die FHA als Doktrin alles, was bisher an Hölderlin-Edition geschehen ist, indem gesagt wird, es gäbe 24 gültige Gesänge, die aufeinander bezogen sind. Alles, was in den Handschriften verteilt ist, wird in jenes Schema reingepreßt, das der eine schmale Band der 'Hesperischen Gesänge' festschreibt – die Bände 7/8 sind dann nur noch der dornige Weg dorthin.

GM   Das ist die Sicht auf die Bände 7/8, wenn man von den 'Hesperischen Gesängen' herkommt. Im Band 8 selbst geht die Konzeption der 'Doppelgesänge' praktisch unter im Kontinuum der Textdarstellung: Alles wird hier zu einem unendlichen Gedicht, zu einem fortlaufenden 'integralen gesang', wie Sattler im Vorwort programmatisch vermerkt. Die einzelnen Entwurfsgrenzen werden verwischt, die Gedichte gehen ineinander über, selbst die von Hölderlin zum Druck gebrachten werden von dieser entgrenzenden Art der Präsentation nicht ausgenommen. Kaum einmal unterteilt eine Gedichtüberschrift den Fluß dieser Textdarstellung. Eine Katastrophe für denjenigen, der mit bestimmten Suchinteressen und mit den üblicherweise an eine Edition gerichteten Erwartungen an diese Bände der FHA herangeht. Wenn man versucht, einzelne Gedichte aufzuspüren und zu ihnen alle Entwurfs- und Bearbeitungsstufen zusammenzustellen, und dieses Material gar noch miteinander vergleichen will, wird es ungemein schwierig: Die Register sind schwer zu handhaben, man muß hier an mehreren Stellen nachschlagen, um überhaupt fündig zu werden, oder sie versagen ganz, weil Entwürfe oder Überarbeitungen unter dem jeweiligen Incipit, jedoch nicht unter dem vertrauten Titel geführt werden. Auch fehlen als Hilfestellung die kleinen Strophenschemata, die in früheren Bänden der FHA den Vergleich der einzelnen Werkstufen erleichterten. Andererseits: Wenn man sich wirklich auf diese Art der editorischen Auf bereitung einläßt, wenn man sich vom Strom der Texte forttragen läßt, dann auf die zahlreichen Zwischentexte des Herausgebers stößt, die bezeichnenderweise sehr viel stärker das Corpus der 'gesänge' gliedern als die Grenzen von Gedichten und Handschriften, so hat man tatsächlich die Chance, ganz neue Erfahrungen mit diesen Texten des Hölderlinschen Werkes zu machen. Hier zeigt sich nun auch der Herausgeber als außerordentlicher Kenner der Materie: Er kann auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die man bislang nicht gesehen hatte, selbst wenn man Hölderlin einigermaßen zu kennen vermeinte. Die Art der chronologisch fortlaufenden Darbietung eröffnet für die Texte oftmals neue Sinndimensionen; es ist anregend und manchmal geradezu spannend, sich ganz dieser Verkettung von poetischen Bildern und Gedanken hinzugeben. Sie kann einem die Augen öffnen, wenn denn immer man bereit ist, sich von den überkommenen Vorstellungen und Erwartungen an eine Edition zu lösen. Und wenn man nicht der vom Herausgeber nur allzu nachdrücklich unterstützten Verlockung erliegt, die hier gebotenen Hypothesen kanonisch zu nehmen, sie nicht als die ultima ratio auffaßt, sondern sie als ein mögliches und durchaus anregendes Angebot versteht, als Appell, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, kann die Lektüre von Band 7/8 der FHA höchst produktiv sein.

RR   Diese Erfahrung verstehe ich sehr gut. Ich hatte eine ähnliche, als ich die Tübinger 'Meridian'-Edition in der Hand hatte. Dabei kam ich sehr ins Assoziieren. Wenn ich aber meine Lektüre-Erfahrung vergleiche, so würde ich sagen, daß die Assoziationen, die sich beim Lesen des 'Meridian' ergeben, solche sind, die nicht mit einer Darstellungsweise zu kämpfen hatten, die die Gutmütigkeit des Lesers immer wieder auf die Probe stellt. Bei Sattler bin ich an jeder Stelle gezwungen – und das geht mir bei Historisch-Kritischen Ausgaben selten so –, eine Unterscheidung zu machen zwischen dem, was ich von Hölderlin wissen will, und zwischen dieser Art von Aneignung, die Sattler vornimmt. Das Problem, das ich damit habe, ist nicht das der Aneignung selbst. Wenn jemand aus dem von Hölderlin Überlieferten eine Fuge schreibt, dann ist das insofern in Ordnung, als es nach seiner subjektiven Seite klar artikuliert ist. Das wenig Hilfreiche an Sattlers Ausgabe ist das Verklumpen von beidem. Ich stelle mir die Hilfestellung einer Edition anders vor. Es sind zum Teil Fragen der Formulierung, an denen mich nicht das Provozierende stört, sondern eher das Verwaschene. Man merkt immer wieder einmal, der Editor traut sich nicht, es vollständig auf die Seite der Provokation zu legen, und wählt statt dessen eine bewußt schwammige Formulierung. Diese Art von  v e r s t e c k t e m  Kommentar finde ich nicht gut, dann hätte man wirklich explizit einen Kommentar schreiben sollen, wenn es einem auf Explikation angekommen wäre. Dann hätte auch jeder andere die Möglichkeit gehabt, am Fundus von Sattler zu partizipieren. Beim editorischen Teil hätte die Trennung zwischen demjenigen, in das der Editor selbst auch in der Art seiner Darstellung eingreift, und demjenigen, was er darstellt, besser gewahrt bleiben müssen. Und weil das kommentierende oder edierende Ich nicht an die Oberfläche der Erscheinung hervortritt, werden die Sachverhalte einbetoniert, was bereits der persönlichen, insbesondere aber der wissenschaftlichen Kommunikation abträglich ist. So hat man keine Chance, die Stimme dagegen zu erheben, wenn es nötig ist.

GM   Wenn ich kritisiere, was Sattler in Band 8 macht, also die editorische Verarbeitung des in Band 7 dokumentierten Materials mich nicht zu überzeugen vermag, dann stelle ich zugleich auch immer die Frage nach einer möglichen Alternative: Was kann man mit dieser Werküberlieferung überhaupt editorisch machen? Einmal abgesehen von den wenigen Texten, die eine einigermaßen 'fertige' Gestalt bekommen haben, haben wir es mit einer sehr großen Zahl von Textelementen zu tun, die nicht nur örtlich, sondern auch semantisch disparat sind. Welche Lösungen bieten sich an? Zum einen der Beißnersche Weg, möglichst alles Überlieferte einzelnen Gedichten zuzuordnen und teleologisch als Stufen eines 'idealen Lesartenwachstums' darzustellen. Oder man orientiert sich allein an den Textzeugen, den Handschriften und Drucken, und gibt die Texte so, wie sie dort erscheinen, 'diplomatisch' wieder. Sattler geht einen anderen Weg: Er ordnet das überlieferte Material vorwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) chronologisch. Das hat dann erhebliche Konsequenzen: Wenn ich mir etwa den Gedichtkomplex 'Mnemosyne' vornehme und darauf gestoßen werde, daß ich das gesamte Feld der zugehörigen Textstufen, angefangen mit
S69 und endend mit S218, über fast den gesamten Band 8 verteilt finde, dann wird es für mich schwierig, dasjenige, was sich beispielsweise im 'Homburger Folioheft' auf Blatt 90/91 abspielt, zu durchschauen. Es gibt zwei Bewegungen, die bei Sattlers Art der Textdarbietung ineinander, zum Teil auch gegeneinander gehen: Zum einen ist da das Zusammenklumpen und -kleistern von Textbruchstücken auf verschiedenen Seiten, wie Roland es bereits beschrieben hat. Sattler spart da nicht mit Überraschungen, so etwa, wenn er Notate auf den Seiten 76 und 37 des 'Homburger Folioheftes' mit dem, was er auf S. 90/91 findet, in einen chronologischen und semantischen Zusammenhang bringt, und zwar aufgrund von kleinsten Zeichen, wo man sich fragt, in wieweit sie plausibel sind und eine so gravierende Zuordnung überhaupt zu begründen vermögen. Zum anderen reißt Sattler das, was sich auf einem Handschriftenblatt befindet, auseinander, um das chronologische Ordnungsprinzip zu wahren. Aber woher weiß er so genau, wann und in welchem Zusammenhang Texte auf den Handschriften niedergeschrieben worden sind? Und seine Konzeption reicht ja weit über den Anspruch einer relativen Chronologie hinaus: Er intendiert, eine absolute Entstehungsfolge editorisch zu realisieren. Das sind also zwei Bewegungen – auf der einen Seite das Zusammenbringen von Disparatem, auf der andern Seite das Auseinanderreißen von örtlichen, zum Teil auch syntaktischen Zusammenhängen der Handschrift –, die sich durchkreuzen und die anvisierte Lösung so unbefriedigend sein lassen.

RR   Ich habe mir auch überlegt, welche Art von Alternative es zu Sattlers Verfahren gibt. Natürlich hat man gut reden, wenn man es nicht selbst machen muß, aber es geht zunächst nur um eine Strukturmöglichkeit. Was ich als Alternative sehe, sind drei Schritte: (1.) Du gibst ein Faksimilie mit Transkription der Handschriften. Dabei wahrst Du die Zusammenhänge der Handschriften, die existieren, indem Du die Seiten, die ineinander gelegt und zusammen überliefert sind, auch hintereinander abdruckst. Dann nimmst Du auf jeder Seite die Sachen, die deiner Ansicht nach – und sie wäre zu begründen – zusammengehören, und vergibst einen numerus currens, und zwar durchgehend durch die gesamte Überlieferung. Damit ist noch keine Anordnung vorgenommen, sondern nur eine fortlaufende Separierung der Vorkommnisse. (2.) Im zweiten Schritt wird von der Ordnungszahl 1 bis sagen wir 450 jedes einzelne Teil im Hinblick auf seine Semantik und auf die Beschaffenheit des Manuskriptes an der betreffenden Stelle erläutert. (3.) Erst in einem dritten Schritt explizierst Du die Zusammenhänge, die Du zwischen den Teilen erkennst. Das hätte den Vorteil einer größeren Übersichtlichkeit, weil man das Ganze nicht einem äußerlichen Ordnungsprinzip unterwirft, das keiner versteht. Das einfache Ordnungsprinzip ist die bloße Anordnung der Reihe nach. Dabei stößt Du natürlich auf ein Problem wie etwa bei 'Mnemosyne', ob das, was rechts steht, und das, was links steht, denselben oder einen anderen numerus currens bekommt. Ich würde sagen: Es bekommt zwei, um dann das Verhältnis zwischen beiden zu erörtern. Und bei dem früher erwähnten 'und' etwa sieht man, daß es wahrscheinlich auf dem Blatt stand, bevor die anderen Sachen geschrieben worden sind – wieso solltest Du ihm keine eigene Nummer vergeben? Diesen Befund kannst Du dann explizieren, ohne es in irgend ein Ordnungsschema gleich integrieren zu müssen.
Sattlers Konstruktion ist nicht so alternativlos, wie sie selbst vorgibt. Es wäre viel angenehmer, einen äußeren Formalismus anzuwenden und die Teile bloß durchzuzählen und ansonsten zu jeder dieser Einheiten, die man daraus bildet bzw. setzt, Begründungen zu geben, weshalb man etwas auf dieser Seite für eine separate Einheit hält. Dann hätte man schon ein Großteil der Argumentation expliziert, die einem in der Rekombination dann zur Verfügung steht. Für jeden Außenstehenden wären die daraus gezogenen Folgerungen einsehbar. Basierend auf diesen Ordnungszahlen lassen sich dann auch Diagramme zeichnen, die über den Zusammenhang der einzelnen Teile Aufschluß geben. Die editorische Arbeit ist zwar ziemlich vertrackt, aber das induktive Prinzip bei der Erstellung der Ausgabe stärker in den Vordergrund zu rücken, hätte ich für sehr nützlich auch im Hinblick auf die Rezeption der Ausgabe gefunden.

WG   Ich denke, es gibt nur einen Zugang zu dem riesigen Schreibprozeß, den die Bände 7 und 8 darzustellen versuchen: Der besteht darin, daß man die Sattlersche Interpretation ab ovo nachvollzieht. Was entfällt, ist die Möglichkeit, sich einen eigenen Zugang zu schaffen, indem man das 'Homburger Folioheft' oder die anderen Handschriftenkonvolute durchgeht und schaut, was mit den einzelnen Stellen nach Meinung des Herausgebers geschieht. Wenn man sich einen Überblick über die beiden 'Gesänge'-Bände verschaffen will, muß man, pointiert gesagt, den Apparatband einer anderen Hölderlin-Ausgabe zu Hilfe nehmen, um die Handschriften zu den einzelnen Textkomplexen zusammenzusuchen. Das ist eine gravierende Darstellungsschwäche, die aus der Phantasie entspringt, daß man jetzt in der FHA den ganzen Gesang hätte. Das mag ein faszinierender Wurf divinatorischer Deutung sein – und ich meine das ganz unironisch – für den Gebrauchswert der Ausgabe bringt dies aber enorme Nachteile.

GM   Ich stelle an eine Edition auch die Frage: Geht nun tatsächlich Hölderlin in diesem Zeitabschnitt von der Vorstellung des Gedichtes als einer angestrebten Werkeinheit ab, so daß man sie vollkommen ignorieren darf ? Gibt es nicht Zusammenhänge, die zu beachten wären, um Hölderlins Gedichtproduktion authentisch wiederzugeben? Ich denke, Hölderlin schreibt nach wie vor Gedichte. Zudem wäre es für mich als Herausgeber schon ein wichtiges Kriterium, ob Hölderlin nun ein Gedicht in den Druck gibt, ob es in Reinschrift oder irgendwo als flüchtiger oder abbrechender Entwurf überliefert ist. Das sind immerhin auch mögliche Kategorien, um dieses Material in eine sinnvolle editorische Ordnung zu bringen. Die Unterscheidung in Veröffentlichtes bzw. reinschriftlich Überliefertes und nichtreinschriftlich, bruchstückhaft Gebliebenes bietet für mich eine verantwortbare Editionsalternative, solange man nicht der Versuchung erliegt, selbst als Herausgeber das Unfertige in vollendeter Gestalt zu repräsentieren. Das gehört nun leider zu den großen Sünden der früheren Hölderlinphilologie.

*

RR   Wir sollten uns einmal genauer anschauen, wie Sattler seine These von einer fünfstrophigen 'Mnemosyne'-Gestalt zu begründen versucht, und müssen dafür zunächst tief in die Verhältnisse verschiedener Texte zueinander einsteigen, vor allem in den von Sattler rekonstruierten Bezug von 'Mnemosyne' auf jenen Entwurf, der unter dem Titel 'Ister' bekannt geworden ist. Teile dieses Gesangs befinden sich auf einem Zettel, auf dem auch der erste Entwurf zu 'Mnemosyne' steht. Sattler spekuliert hier zunächst über die Art, in der Hölderlin versucht, Überschriften zu konstellieren. Wie hast Du, Gunter, den Überschriftenzusammenhang von 'Die Schlange' begriffen?

GM   Das hier Fragliche befindet sich auf dem Blatt 339/4 (VII 453), also einem apart vom 'Homburger Folioheft' überliefertem Doppelblatt mit verschiedenen Entwürfen. Auf der vierten Seite haben wir einen ziemlich weitgehenden Entwurf mit Material, das später in den gesamten 'Mnemosyne'-Komplex eingeht. Oben drüber, und das scheint zunächst klar zu sein, steht die Überschrift 'Die Schlange.'. Der Punkt dahinter verweist auf Hölderlins Versuch, einen Titel festzulegen. 'Die Schlange.' wird dann gestrichen. Darunter schreibt Hölderlin, leicht nach rechts versetzt, 'Das Zeichen.', auch das wiederum offensichtlich als Titel intendiert, der in dieser Handschrift nicht gestrichen wird. Dann folgen rundherum, z. T. auch den Titel überschreibend, 'aber es haben / Zu singen,' und dann 'Schön ist / Der Brauttag' usw. Das sind Materialien, die Sattler dem 'Mnemosyne'-Komplex – damit meine ich sowohl den
a-Gesang, dem er den Titel 'Mnemosyne' gibt, wie auch den b-Gesang, den er 'Die Nymphe' nennt – zuschlägt.
Interessant finde ich nun, wie Sattler von vornherein bestimmte Deutungen festlegt, die dann die Verteilung und die Zuordnung der Teile bestimmen. Er schreibt zu 'Die Schlange.' im editorischen Teil: 'vmtl zusammen mit dem nachgetragenen titel
S672 'Der Adler.' als dritte chiffre der dichterischen bewußtseinsformen; vmtl erste überschrift des stromgesangs [Der Ister.]' (VIII 712). Hier werden zwei Hypothesen vorgetragen, die für Sattler leitend werden: (1.) Die Überschrift ist eine 'chiffre der dichterischen bewußtseinsformen', wodurch sie einen esoterischen Charakter zugesprochen bekommt. Sie spricht nicht für sich selbst, sondern für ein anderes, und so scheint er zumindest den Titel 'Das Zeichen.' zu verstehen. (2.) In dem Bild, das mit der Überschrift 'Die Schlange' aufgerufen wird, wird der Lauf des Stromes mimetisch nachgebildet. Zu 'Das Zeichen.', das Hölderlin nachfolgend als Titel niederschreibt, wird zunächst 'Viel Männer möchten da seyn, wahrer Sache' (VIII 713) hinzugeschlagen. Dann, unter S721 , schreibt Sattler, daß der Neuansatz 'aber es haben / Zu singen' zugleich das Aufgeben des Titels 'Das Zeichen.' bedeute: 'neuansatz über dem damit aufgegebenen titel S711 'Das Zeichen.'; zur späteren integration in den gesang vgl S178 'Ein Zeichen sind wir …'' (VIII 714).
Von der Handschrift her gibt es nicht unbedingt ein Indiz, daß 'Ein Zeichen.' durch die Niederschrift 'aber es haben // Zu singen,' aufgehoben wird, wenngleich 'Zu singen' mit der Schrift in 'Das Zeichen.' hineinragt. Sattlers Argumentation läuft jetzt wie folgt: Indem die Überschrift hier frei wird, kann er sie für einen anderen Zusammenhang gebrauchen, und er verwendet sie dann für die
b-Version von 'Der Ister', wobei wir dann die Konstellation haben, daß beide Titel, derjenige von der a- wie auch der von der b-Version, als solche in keiner den 'Ister'-Text überliefernden Handschriften steht, sondern von Herausgeber gesetzt sind. Von Hellingrath übernimmt Sattler den Vorschlag, über das Bruchstück den Titel 'Der Ister' zu setzen; erst in Vers 21 des Gedichtes wird der Donau-Strom unter diesem Namen genannt. Für 'Das Zeichen.' gibt es in der weiteren Durchführung des Gedichtes ebenfalls ein Indiz: 'Sie [die Ströme] sollen nemlich / Zur Sprache seyn. Ein Zeichen braucht es / Unwissend', heißt es in S74, 11, z. 50-52 (VIII 723). Dieses Auftauchen des Wortes 'Zeichen' ist für Sattler Argument dafür, den nun freigewordenen Titel 'Das Zeichen.', der ursprünglich zum 'Mnemosyne'-Komplex gehörte, zum 'Ister'-Gesang herüberzuziehen. Soweit Sattlers Argumentation.
Selbstverständlich – und das wird man mitbedenken müssen – gehört für Sattler zum 'Mnemosyne'-Komplex der spätere Anfang der ersten Strophe 'Ein Zeichen sind wir …', wo also an pointierter Stelle der Zeichenbegriff wieder erscheint. Von daher gäbe es ebenso plausible Gründe, 'Das Zeichen.' als Titel einer Vorstufe in dem ursprünglichen Schreibzusammenhang zu belassen und nicht einem anderen Gedicht zuzuschlagen.

RR   Ich denke, es gibt eine einfache Grundannahme, die diesem Verfahren zugrunde liegt und in gewisser Hinsicht dem Verfahren, semantisch Ähnliches, aber räumlich Getrenntes in einen Zusammenhang zu stellen, parallel läuft. Was ich meine, läßt sich vielleicht mit dem Begriff der Kontaguität beschreiben: Daraus, daß etwas in der Nähe von etwas anderem steht, wird gefolgert, daß es auch inhaltlich zusammenhängt. Es wird also versucht, aufgrund der Lokalisation von Niedergeschriebenem eine Hypothese zu entwickeln.
In diesem konkreten Fall sind wir an jener Nahtstelle, wo auf der vorhergehenden Seite dasjenige steht, was unter 'Ister' bekanntgeworden ist, und auf der folgenden Seite der erste Entwurf zu 'Mnemosyne' beginnt. Es scheint hier folgende Vermutung aufzutauchen:  W e i l  wir ein Wortfeld haben, das sich überlappt, hat das Ganze den Charakter einer Fuge. An dieser Stelle wird die Konstellation der Überschriften 'Die Schlange' einerseits und 'Das Zeichen' andererseits als Fugenelement zwischen den beiden Werkkomplexen 'Der Ister' einerseits und 'Das Zeichen' andererseits verwendet.
Ich bin diesbezüglich skeptisch: So, wie das hier steht, kann man zwar sagen, durch die Setzung der Wörter 'Das Zeichen' ist möglicherweise die Phantasie in bezug auf die erste Niederschrift der Strophe 'Ein Zeichen sind wir, deutungslos' stimuliert worden. Deshalb ist aber nicht notwendigerweise zu unterstellen, daß die Niederschrift der beiden Wörter 'Das Zeichen' schon mit Blick auf 'Mnemosyne' getätigt worden ist und umgekehrt. Wieso sollte es nicht möglich sein, daß jemand sich die Wörter 'Das Zeichen' notiert, und mehr nicht? Er beschäftigt sich zwar mit dem Begriff Zeichen, aber müssen wir, wenn wir eine solche Wahrnehmung machen – sie besteht darin, daß 'Das Zeichen' nicht in den Zeilenfall des Restes auf der Seite integriert ist –, annehmen, daß es bereits in einen Kontext gehört?

GM   Ich würde scharf trennen zwischen der editorischen und der interpretierenden Verarbeitung. Selbstverständlich hat bei dieser Konstellation jeder die Möglichkeit zu sagen, hier im Vorstufen-Titel 'Das Zeichen' ist schon der spätere Gedicht-Anfang 'Ein Zeichen sind wir, deutungslos' antizipiert. Es ist aber nicht Aufgabe eines Editors, eine solche Deutung festzulegen, und – weil das Kriterium sehr viel schwächer ist als das der Zuordnung zu 'Mnemosyne' – schon gar nicht, definitiv zu behaupten, der Titel gehöre zum 'Ister'-Komplex. Die Argumentation Sattlers: 'Das Zeichen' wird als Überschrift frei und deswegen transportiere ich es zum 'Ister'-Gesang, und zwar mit einer sehr starken bedeutungshaften Aufladung, erscheint mir mehr als gewagt. Die Motivation einer solchen Operation ist nur allzu durchsichtig: Denn hiermit wird einem titellosen Gedichtbruchstück eine Überschrift zugeordnet, die Sattlers Konzept der Doppelgesänge, nämlich der exoterischen Ausrichtung der
a-Version und der esoterischen, sprich zeichenhaften Bedeutung der b-Version, entscheidend zu stützen vermag. Hier liegt genau genommen eine zirkelhafte Argumentation vor. Zumindest aus einer Edition würde ich eine solche Spekulation verbannen.

RR   Kann man sagen, daß diese Art der Erläuterung ein ökonomisches Moment impliziert? Das Niedergeschriebene bleibt nicht, wie man denken würde, einfach so stehen, sondern wird auf etwas anderes bezogen, damit es eine Funktion hat und nicht überf lüssigerweise dasteht. 'nachdem die überschrift und strom-metapher
S691 'Die Schlange' durch S711 'Das Zeichen' ersetzt und auch dieser zweite titel (nach einführung des 'Nymphe'-motivs S721 :3. 4 'Schön ist / Der Brauttag …') wieder zur disposition steht, ist die in b S7413 :[54. 55] präzisierte funktion des 'zeichens' als verweis auf die überschrift anzusehen' (VIII 724). Ich kann unterstellen, daß, wenn dort etwas steht, es seine Funktion mit Bezug auf anderes hat, was dort steht. Es kann seine Funktion wechseln, wenn weiteres Geschriebenes hinzukommt, aber immer hat es eine Funktion. Auf diese Weise wird ein Freiheitsspielraum der schriftlichen Aufzeichnung preisgegeben, ohne daß dafür eine Notwendigkeit bestünde. In unserem Kulturkreis kann 'Schlange' alles mögliche implizieren. Es ist eine sehr starke, keineswegs alternativlose These, die Schlange als Metapher für den Stromlauf der Donau zu nehmen. Hölderlin hätte ein Gedicht architektonisch aufbauen wollen, das sich mit dem Motiv der Schlange beschäftigt. Aber das alles wissen wir gar nicht. Wir können die Spielräume dessen, was möglich ist, nicht darauf reduzieren, was dann tatsächlich überliefert ist.
Das ist der Syllogismus, der bei Sattler im Hintergrund steht: Wenn etwas dasteht, dann bezieht es sich auf etwas, das auch da steht. Für mich ist das eine gravierende Verkürzung, denn es kann auch etwas dastehen, das sich auf etwas bezieht, das nicht dasteht. Wenn wir Sattlers implizite Behauptung ernstnehmen, dann hätten wir keine Entwürfe mehr, sondern immer Realisationen dessen, was niedergeschrieben worden ist. Im Hintergrund steht also eine starke These über die notwendige Verflochtenheit alles Aufgeschriebenen, die zwar erwogen werden kann, aber nicht die einzig denkbare ist.

WG   Die Frage ist dann, wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, ob diese Entwürfe überhaupt noch als konstituierte Texte edierbar sind oder ob nicht die Entschiedenheit im Haupte des Editors dasjenige ist, was eine Edition erst wieder ermöglicht, eine Edition, die deutlich weiter und offener ist als die Hölderlin-Ausgaben, die jetzt im Handel sind. Mit der fünfstrophigen 'Mnemosyne' wird, beinahe ironisch, gezeigt, daß das Feld offener ist, in dem man sich bewegt. Dasjenige, was die FHA nicht zugibt, ist, daß in den Handschriften Unsinn oder Nichtsinn steht, es ist immer Sinn, aber es ist so entschieden Sinn, daß man als ihr Leser geradezu gezwungen ist, sich dagegen zu verhalten. Als editorisches Konzept erinnert mich das durchaus an die Ausgangsbasis der FHA vor 25 Jahren. Die andere Frage ist, ob man darüber auch eine bestimmte Vorstellung von Edition und Edierbarkeit dieser Entwürfe verabschieden muß. Ihre eigentliche Editionsleistung wäre dann die Faksimile-Ausgabe des 'Homburger Folioheftes', der anderen Konvolute und die Ergänzungen dazu. Diese Editionen müssen so gut wie möglich sein und so genau wie möglich transkribiert sein – mehr ist eigentlich nicht möglich. Das, was bei Sattler 'Dokumentation' heißt, ist Edition, und das, was bei Sattler 'Edition' heißt, ist reine Interpretation.

GM   Man kann dem Leser nicht, so einleuchtend das zunächst wäre, die sehr komplex beschriebenen Blätter des 'Homburger Foliohefts' und der in dessen Umkreis gehörenden Entwürfe so ohne weiteres überlassen. Man sollte schon einen ganzen Schritt weitergehen in der Präparierung des editorischen Materials. Man kann bestimmte graphische Zusammenhänge und Gegebenheiten, die den Blättern tatsächlich zu entnehmen sind, und auch grammatikalisch-syntaktische oder auch metrische Zusammenhänge als Argument nehmen, bestimmte Textgruppen zusammenzuschließen, meinetwegen auch zu konstituieren, rein schon vom Befund her, ohne daß damit schon ganz bestimmte Deutungen dominant würden. Dasjenige, was ich an Sattler kritisiere, ist eben, daß er eine sehr starke Hypothesenbildung zur Grundlage seiner Textkonstitution macht, und das auf Kosten der graphischen Befunde, die sich oftmals, wie wir gesehen haben, den Deutungen beugen müssen. Eine solchermaßen beherrschende Hypothesenbildung, die bei allen Entscheidungen in den beiden Bänden, von der Zeittafel bis hin zur Konzeption der 288 Segmente und der 12 Doppelgesänge, leitend ist, sprengt den Rahmen einer Edition und hätte in Kommentaren, Auslegungen, Monographien einen angemesseneren Platz als in einer historisch-kritischen Ausgabe.

WG   Es ist ja eine historische Tatsache, daß von 'Mnemosyne' heute 14 oder 15 Textkonstitutionen zugänglich sind. Darüber könnte man doch auf den Gedanken stoßen, daß es halt nicht möglich ist, eine verbindliche Textversion von 'Mnemosyne' zu bekommen. Sattler, und das unterscheidet seine Edition von allen bisherigen, verzichtet nun auf die eine und erstellt zwei, die
a- und die b-Version. Deren Zusammensetzung ist so kühn, daß man sie eigentlich nicht teilen kann.

GM   Es wäre jetzt spannend zu sehen, wie Sattler argumentiert, wenn er die drei- oder vierstrophigen Versionen von 'Mnemosyne', die unmittelbar aus der Handschrift ersichtlich sind, plötzlich zu einer fünfstrophigen macht, und zwar sowohl die
a- als auch die b-Version. Er kommt zu dieser Hypothese, indem er nämlich an ganz anderer Stelle im 'Homburger Folioheft' stehende Textstücke (auf den Seiten 37 und 71) in die begonnene Reinschrift (S. 90-92, die damit natürlich vollends aufgelöst wird) einmontiert, und zwar, wie ich meine, mit sehr schwachen Argumenten, nämlich aufgrund von Bedeutungs-Assonanzen und der Annahme von bestimmten, ihm unfertig erscheinenden Satzstrukturen, wo er dann die syntaktischen Ergänzungen aus ganz anderen Zusammenhängen des 'Homburger Folioheftes' geradezu hervorzaubert und mit diesem Material die unvollständigen Sätze und Strophen auffüllt. Das ist eine durchaus wackelige Grundlage für eine doch sehr weitgehende Hypothese, daß nämlich die Gesänge 'Die Nymphe' bzw. 'Mnemosyne' von vornherein fünfstrophig konzipiert seien, und das gegen den äußeren Anschein der Handschrift, wo auf den Seiten 90-92 im besten Fall vier Strophen auszumachen sind.

WG   Neben den fünf Strophen ist die Versanzahl fast noch die größere Zumutung. Die
a-Version hat pro Strophe 17 Verse bzw. Zeilen, die b-Version hat deren 18. Die 17 Verse waren, wegen der berühmten 'Zählpunkte', auf die Beißner erstmals einging, das einzig Sichere, was man für die Konstitution eines Textes hatte – wenn man denn überhaupt einen Text konstituieren möchte, was ich nicht für möglich halte. Deshalb ist mir eine offensichtlich unmögliche Konstitution lieber als eine, die, wie die dreistrophigen von Beißner oder Schmidt, den Anschein erweckt, als sei sie wissenschaftlich abgesichert.

RR   Da bewegen wir uns auf sehr schwankem Boden. Das Problem bei dieser Angelegenheit ist, daß die Annahme immer mitgeht, die Textkonstitution könne um so kühner sein, je genauer die Textdokumentation verläuft. Aber das kann nicht die Wahrheit sein: Nur um die Textkonstitution problematisch werden zu lassen, machen wir eine völlig irrsinnige, damit jeder begreift, was für eine unmögliche Sache eine Textkonstitution ist. Dann könnte man es auch bei dem einfachen Satz bewenden lassen: Eine Textkonstitution ist nicht möglich.

WG   Dann aber kommt einer daher und sagt: Doch! Doch! Was aber hier vorsätzlich gemacht wird, das ist eine Dekonstruktion jeder möglichen Textkonstitution, indem eine unmögliche vorgeführt wird.

GM   Trotz meiner ganzen Kritik und Skepsis gegenüber Band 8 ist mir ein solches Konzept schon sehr viel lieber als das, was mir in anderen Ausgaben vorgeführt wird, wo eine Endgültigkeit der Textkonstitution vorgespiegelt wird, die in den Handschriften einfach nicht existiert. Das natürlich in der stärksten Ausprägung in der 'Stuttgarter Ausgabe', wo im Textband eine als fertig erscheinende Version vorgeführt wird, und alles, was nicht integrierbar ist und auch nicht taugt zur Herausstellung einer weiteren 'Fassung', steht dann im Apparatband, wo freilich die Dokumentation der tatsächlichen Überlieferung überhaupt nicht geleistet wird, sondern das Material schlicht abgekoppelt wird; es ist für den Leser praktisch nicht verfügbar. Da ist mir Sattlers Darstellung lieber, die doch immerhin in den Zwischentexten sehr deutlich macht, daß hier eine Hypothese die Grundlage ist, daß also, wie Wolfram sagt, die Dekonstruktion sofort mit angelegt ist und gezeigt wird, so könnte man es machen, wenn man von den und den Prämissen ausgeht. Diese Prämissen sind in ihren Kriterien sicherlich wackelig, aber sie sind Anreiz und Ermunterung, selbst immer wieder in die hier sich auftuenden Probleme einzusteigen, Konstitutionen zu wagen – oder auch zu sehen, wie hier auf den Blättern des 'Homburger Folioheftes' dem Autor Hölderlin offenbar das Zusammenschließen der verschiedenen, auseinanderstrebenden Entwurfsbewegungen nicht mehr vollauf gelingt, aus welchen Gründen auch immer.

RR   Ich bin mir nicht sicher, ob diese wohlwollende Einschätzung, daß es sich hier um Vorschläge handelt, die ihre eigene Zerstörung in sich enthalten, etwas wäre, das Sattler ohne weiteres unterschreiben würde. Man sollte seine Textkonstitution schon ernstnehmen. Sie ist der letzte Stand seines Nachdenkens über diesen Gegenstand. Es ist eine Position, die eine bestimmte Härte hat und nicht zerschmilzt, wenn man sie auch nur anschaut. Man kann sich schon fragen, wie es Wolfram vorhin skizziert hat, was die Alternativen zu Sattlers Edition wären. Wenn man sieht, wie hochkomplexe, in sich relativ autonome Gebilde wie einzelne Strophen von 'Mnemosyne' aufgrund eines Wortes, das in ihnen vorkommt, und insbesondere ohne Berücksichtigung der Versgestalt auf ein anderes, ähnlich komplexes Gebilde bezogen wird, dann ist das eindeutig zu wenig an interpretatorischem Aufwand, um Bezüge herzustellen.
Ich befürchte, daß das Problem bei Hölderlin gar nicht so sehr ein editorisches ist; das editorische ist vielleicht gegenüber dem hermeneutischen Problem nachgeordnet, dem Umstand nämlich, bei den vielen semantischen Komplexen, die auf einer Manuskriptseite koexistieren, überhaupt zu erläutern, warum sie dort so stehen, wie sie dort stehen. Bei anderen Ausgaben mag es genau andersherum sein: daß der Kommentar auf Basis einer Edition funktioniert. Bei Hölderlin müßte man zunächst einmal einen catalogue raisonné haben, der darüber informiert, worum es in diesen Texten überhaupt geht. Dann erst lassen sich inhaltliche Bezüge herstellen. Dazu vermisse ich bei der Beschreibung sehr vieler handschriftlicher Seiten überhaupt Hinweise. Man kann daraus keine Verwaltungsaktion machen: zwei Worte an verschiedenen Stellen nur, weil sie ähnlich scheinen, aufeinander zu beziehen. Die Wörter stehen innerhalb der Strophe, in denen sie gerade gesetzt sind, in bestimmten Bezügen. Aber was bedeuten diese?

GM   Ist das, was Du forderst, in einer Edition zu leisten? Ich erinnere nur daran, Du selbst brauchst etwa 700 Seiten, um das darzustellen; Dieter Burdorf hat für 'Das Nächste Beste', für vier Seiten Folioheft, knapp 300 Druckseiten, wo er tatsächlich genau dieses macht: er prüft jedes einzelne Notat von Hölderlin und diskutiert ganz genau die Anschlußmöglichkeiten, wobei er es nicht wagt, überhaupt eine Textkonstitution vorzuschlagen.

RR   Mag sein, aber so ist das halt, wenn man sich mit Hölderlin beschäftigt. Das Vernüftigste wäre es, wie Wolfram bereits gesagt hat, zunächst eine relativ zurückhaltende Dokumentation zu machen. Man kann es dann der Öffentlichkeit durchaus als Aufgabe mitgeben, an dem catalogue raisonné mitzuarbeiten. Das muß nicht sogleich den Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit haben, wahrscheinlich auch nicht gleich in Buchform vorliegen. Mittlerweile gibt es alternative Möglichkeiten, sich so etwas vorzustellen. Die interpretatorische Last, die durch die Zuordnung von einzelnen Aufzeichnungen Hölderlins zueinander auf einem lastet, ist nicht durch einen Handstreich aus der Welt zu schaffen. Sie erfordert viel Geduld, Ausdauer und Explikationsvermögen. Sattlers aphoristische Einstreuungen sind hierzu ein erster Ansatz, aber nicht hinreichend, um so komplexe Gebilde, wie wir sie hier vorliegen haben, überschaubar aufeinander beziehen zu können. Da ist sehr viel Intuition dabei, die ebenso richtig wie falsch sein kann. Man würde sie aber in jedem Fall gerne erläutert bekommen.

WG   Beim augenblicklichen Stand des Gesprächs würde ich sagen: Zu kritisieren wäre der Band 7, und nicht der Band 8, weil der Band 7 die ganze 'Dokumentation' bringt und dafür zu wenig offen ist. Man hat z. B. nicht die Möglichkeit, über die substituierten Werkzusammenhänge zusammen zu bekommen, was denn alles dazugehört. Bei Band 7 ist durch die miserablen Register, die ihm beigegeben sind, fast keine Benutzbarkeit möglich, während in Band 8 es fast keinen Sinn mehr hat, sich im einzelnen damit auseinanderzusetzen, es sei denn, man will sich über interpretatorische Sachen streiten. Im Band 7 ist zu wenig Offenheit. Man kann allerdings dagegen halten, die Ausgabe sei nach zwei Seiten hin verlängert: einerseits im Editorisch-Dokumentarischen hin zu Supplementausgaben, wo noch eine Chance bestünde, die wissenschaftliche Offenheit durch bestimmte Registerverfahren wirklich zu garantieren, als eine Art reiner Objektivität ohne die genialische Subjektivität des Herausgebers, andererseits hin zu den visionären oder spekulativen Textkonstitutionen, wie man sie in den 'Hesperischen Gesängen' findet und die 'an sich' durchaus wieder lesbar sind.

GM   Noch eine Bemerkung zu der Frage, ob Sattler eine Dekonstruktion wollte oder nicht. Wenn ich an eine solche Ausgabe herangehe, ist es mir vollkommen gleichgültig, was der Herausgeber wollte. Für mich ist allein maßgebend, was in den Texten steht, wie sie präsentiert werden und was ich damit anfangen kann. Das ist für Editionen durchaus ein gewichtiger Aspekt: Was kann ein Leser mit ihnen machen? Wie ist ihre Nutzbarkeit? Die negativen Seiten haben wir in verschiedenen Aspekten bereits angesprochen: unübersichtliche Registerbildung, Fehlleitungen etwa durch den Kolumnentitel, die nicht leisten, was sie leisten sollten, etwa dadurch, daß Wörter aufgenommen werden, die im Text gar nicht stehen.

RR   Abschließend sollten wir noch etwas sagen über die überraschende Art, in der Sattler die Punkte in der Strophe 'Wie aber lieber Sonnenschein' von 'Mnemosyne' deutet. Darüber gab es verschiedene Diskussionen. Eine Position bestand darin, daß man sagte, Hölderlin habe versucht sich zu vergewissern, wieviele Verse diese Strophe hat. Man kann sich jetzt überlegen, ob es aus einer Unsicherheit heraus geschehen ist oder um sie nur noch einmal festzuklopfen. Welchen Eindruck habt Ihr von der Erläuterung, die Sattler dazu gibt? Erstens wird wieder behauptet, ohne eine nähere Begründung dafür zu geben, daß Hölderlin ein Gutteil der Anregungen für seine Gedichte innerhalb dieser Zeit aus der Lektüre von Herders 'Adrastea' gewonnen habe, und es ist offenbar Sattlers Auffassung, daß der Anlaß, 'Mnemosyne' als Überschrift zu erwägen, ein Musengespräch aus Herders 'Adrastea' ist. 'im hinblick auf diesen 'bezugspunkt' […] ist zu zeigen, in welcher weise der doppelgesang 'Die Nymphe' / 'Mnemosyne' von anfang an auch formal an die stelle des fünfstrophigen, jetzt offenbar als prooemium vorgesehenen gesangs 'Andenken' tritt' (VIII 731).
Ich habe vergessen zu erwähnen, daß im Hintergrund von Sattlers fünfstrophiger Konstitution die Überzeugung steht, daß das Ganze abbildbar ist auf 'Andenken'. Daß 'Andenken' fünf Strophen hat, ist insofern evident, weil wir davon auch einen Druck haben. Jetzt wird 'Andenken' zu einem 'Prooemium' (ein Begriff, der bei Sattler öfters vorkommt) funktionalisiert. Unverständlich ist mir, wieso nicht gesagt wird: in Analogie, sondern als Prooemium? Dann fährt Sattler fort: 'mit der klärenden reinschrift
S761 werden die überschrift b, der mittelteil und die zweite hälfte des später in version b aus 18zeiligen, in a 'Mnemosyne' aus 17zeiligen strophen bestehenden gesangs bereitgestellt; die erste, anderthalbstrophige vorfügung S77 'Auf falbem Laube …' wurde mit dem eher ironischen Herderzitat S78 'Cäcilia.' verworfen' (in Parenthese gesagt: Dort steht nur das einzige Wort 'Cäcilia.'. Aus einem isoliert gesetzten Wort abzulesen, es sei ironisch gemeint, ist, ehrlich gesagt, schon ein sehr großer Ausgriff auf mein Verstehensvermögen) 'und mit S761 'Die Nymphe.' die überschrift a vorgegeben; nach entwurf der 'Mnemosyne'-Strophe S794 und den nach und unterschiedenen 'Früchte'-strophen S801-4 wird der grundentwurf b durch punktierung von der 'Mnemosyne'-version a unterschieden; das zwischen strophe 3 und 4 notierte S81 'Wohl ist mir die Gestalt / Der Erd' ist erster ansatz zur späteren, zweizügig ausgeführten vervollständigung des gesangs; vgl die bemerkung vor S166 'Gerächet oder vorwärts…''. Offenbar ist es Sattlers Meinung, daß es sich bei der Punktierung nicht um eine Zählung, eine Überprüfung der Versanzahl handelt, sondern daß sie eine Zuordnung dieser Verse zu einer anderen, alternativen Textgestalt anzeigen, nämlich der Version b.

GM   Es kommt dann noch eine weitere Stelle, wo die Problematik noch deutlicher wird. Sattler ist nämlich gezwungen, diese Reihe von Punkten zu ergänzen, damit sie in der Weise funktioniert, wie er es annimmt. Dabei setzt er sich auch polemisch ab von Beißners These, die Punkte würden die stehenbleibenden Verse zählen.

RR   Sattler schreibt: 'zeilenweise markierung der 18zeiligen eingangsstrophe
S803 ab S801 :3 'wie auf den Schultern …' vor der kolumne; so ebenfalls bei der vorletzten und bei der gleichfalls 18zeiligen schlußstrophe der version b 'Die Nymphe' (in S763 am zeilenbeginn verdeckte markierung der eingefügten zeile [88] 'Die Seele schonend sich' im darunterstehenden 'Zu'; der vorentwurf der zweiten und dritten strophe bleibt unpunktiert; da die komplizierte 'Mnemosyne'- redaktion […] und der verhältnismäßig eindeutige, jedoch zeilenintern gebrochene neuentwurf des schon notierten 'Mnemosyne'-schlusses (b geltend vor a S794 : [78a]) ebenso unberücksichtigt bleiben wie auch der unübersichtliche beginn der eingangsstrophe b S801-3 :1-6, ist eine 'vergewissernde zählung' auszuschließen; zusätzliche zeichen ergänzen in zweifelsfällen die punktierung; ein diagonales zeichen (statt punkt) vor der kolummne S792 :[67] 'Der Alpen, hälf[t]ig' meint vmtl die rechts notierte version b S762 :[67] 'Der Alpen, dort'; ebenso zielt der eingerückt wiederholte punkt vor S761 :[68]1 auf das gleichfalls hinter der kolumne notierte b 'Bei Windessausen …'; ein vertikaler strich hinter der – gegen die divergiernde zeilenbrechung in a S793 :[63. 64] – gültigen zeile S763 :[69] verdeutlicht zugleich die zugehörigkeit des darüber notierten 'Der Alpen, dort' zur version b 'Die Nymphe'; ebenso bestätigen drei striche unter dem von a S793 :[65] 'auf hoher …' überlagerten S763 :[70] 'auf der schroffen …' die gültigkeit dieser fügung in version b' (VIII 740).
Es wird also versucht, auch an den Stellen, wo kein Punkt vorne dran steht, den Eindruck zu erwecken, als habe Hölderlin eine Markierung vorgenommen, die schon im Manuskript den von Sattler sogenannten
b-Gesang von dem sog. a-Gesang separiert. Hier wirkt die Hypothesenbildung, die nicht explizit ausgeführt wird, so stark, und hier ist das Konzept vom Doppelgesang so mit Systemzwang eingesetzt, daß selbst Befunde, die nun gar nicht hineinpassen, so zurechtgebogen werden müssen, daß sie am Ende so erscheinen, wie der Editor das gerne hätte. Warum ist das notwendig? Das Gedicht wird dadurch weder besser noch schlechter, daß am Anfang der Strophe die Punkte stehen und am Ende nicht mehr. Ich sehe darin eine Überformung des handschriftlichen Befunds, die dem Leser keinen Deut bessere Zugangsmöglichkeiten erschließt, als es der Fall wäre, wenn diese Art von brachialer Reimplantation von Einsichten unterbliebe.

GM   Ich habe noch eine andere Frage, die einen sehr starken Baustein in Sattlers Argumentation betrifft, daß nämlich Hölderlin von vornherein den Plan von zwölf Doppelgesängen gefaßt habe. Wie begründet Sattler diese seine Hypothese? Dasjenige, was ich sehe und was wirklich ein wichtiges Indiz wäre, ist die Verteilung von Überschriften und von Gedichtansätzen im 'Homburger Folioheft'. Hier scheint Hölderlin tatsächlich eine bestimmte Reihe von Gedichten zu planen. Das ist auch in anderen Zusammenhängen, etwa bei Uffhausen, Grund gewesen, eine Hypothese herauszubilden, wie dieses Gedichtbuch hätte aussehen können, wenn es denn zum Abschluß gekommen wäre. Bei Sattler sieht das anders aus. Er schließt die drei Elegien am Anfang des 'Homburger Folioheftes' aus, d. h. er kann diese Sammelhandschrift nicht mehr ohne weiteres als Sammelbecken oder Planungsheft für die Konzeption der Doppelgesänge nehmen. Wo gibt es denn weitere Indizien?

WG   Ich befürchte, das Ganze ist ein Indizienprozeß, wo sich aus einer Überlegung die nächste ergibt und wo nach einer gewissen Zeit die ursprüngliche Hypothese zur Gewißheit wird. Das ist eine Entwicklung, die sich im Selbstvollzug der Edition herausgebildet hat und die wohl nur noch ästhetisch zu rechtfertigen ist. Wenn einem das mit den zwölf Gesängen gef ällt, schön – das hat ja auch eine seltsame Evidenz, und man muß sich erst einmal davon absetzen, um zu begreifen, daß es diese – nun weit über Uffhausen hinausgreifende – Gesamtheitsvorstellung des 'Gesangs' nicht gibt.

RR   Um es konkret zu beantworten: Ich habe keine Instanz im Überlieferten gefunden, die darauf hinweist, daß man die Hypothese der zwölf Gesänge genauer begründen könnte. Ich hätte mir den Gedankengang so vorgetragen gewünscht, daß man ihn explizit als behelfsweisen Kompaß für den Weg durch den Dschungel einführt und seine erschließende Tauglichkeit dann an den Handschriften plausibel macht. Mit dieser Art der Herangehensweise könnte ich etwas anfangen, weil sie von Anfang an mit offenem Visier vorgeht und einen dazu ermuntert, sich auf die Hypothese einzulassen und sie gegebenenfalls aufzugeben oder zu ändern. Die Frage ist, ob die Hypothese Anstoß gibt, alternative Hypothesen zu formulieren, oder ob sie ihren experimentellen Charakter verwischt und den Anschein erwecken will, alternativlos zu sein. Die Dezidiertheit, mit der hier über Sachen geredet wird, die man allenfalls im Modus der Vermutung artikulieren sollte, finde ich nicht förderlich für die Frage der Durchschaubarkeit der Argumentationsweise. Es ist eine Hypothese, die nach ihrer Fruchtbarkeit beurteilt werden will, und als solche hat sie einen anderen Status als die Behauptung einer faktischen Existenz von Plänen. Es fehlt eine Ebene, die man sinnvollerweise einziehen sollte, um so etwas into operation zu bringen.
Es gibt ein Moment bei der Textkonstitution dieser komplexen handschriftlichen Überlieferung, das nach hermeneutischen Aktionen schreit. Daß wir die Diskussion führen über die Frage, wie das Gedicht 'Mnemosyne' eigentlich aussieht, hängt damit zusammen, daß eigentlich niemand es für nötig erachtet, sich der schwierigen Arbeit zu stellen, genau zu erläutern, was er von bestimmten Strophen hält. Man muß ja das Verständnis von den Blöcken klären, die dort oder dort eingefügt werden, und ich bin mir bewußt, daß wir aufgrund der Extension, die das alles annehmen würde, an der Grenze dessen sind, was  e i n e  Person leisten kann. Dennoch können wir nicht anstelle dessen – weil wir etwa so mutig wären, es uns trotzdem zuzutrauen – die Reflexion abbrechen und lieber etwas festsetzen, als dem Nachdenken gar nichts zu überliefern. Dem Nachdenken ist durch die Dokumentation schon genug überliefert, da brauchen wir nicht noch zusätzlich diesen Überbau.

GM   Ich glaube, wir können jetzt noch einmal zurückkehren zu dem Satz, den wir bereits aus den Einleitungen zu den Gesängen zitiert haben: 'es ist die erfahrung dieser 1972 begonnenen arbeit, daß im zerbrochenen gesang dieses dichters die nur zu sichtbare zerstreuung des lichts nachvollzogen und, im kühnsten aller künstlerischen akte, die möglichkeit seiner restitution disponiert ist.' (VIII 537) Wenn ich unser Gespräch richtig verstehe, folgen wir Sattler in der ersten Hälfte des Satzes: Die 'zerstreuung des lichts' ist nicht Symptom einer Geisteskrankheit, sondern als eine äußerst komplexe Auseinandersetzung mit der Zeit zu sehen. Die Möglichkeit einer Restitution, die in dem Überlieferten angelegt sein mag, bleibt der Deutung überlassen und kann nicht mehr Gegenstand der Edition sein. Ich befürchte, dieser 'kühnste aller künstlerischen akte' ist tatsächlich Sattlers künstlerischer Akt, und nicht der von Hölderlin.