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an dr. wilfried grauert zu volker brauns gedicht STRÖMFELD

dr. h.c. D E Sattler   Rutenstraße 8   28203 Bremen

herrn
dr. Wilfried Grauert

5. februar 2002

sehr geehrter herr Grauert,
vielen dank für die kopie von 'Was kommt?', die ich im briefkasten vorfand; ergänzend zu unserem gespräch schreibe ich Ihnen, was mir sonst noch zu Volker Brauns gedicht STRÖMFELD aus DIE ZICKZACKBRÜCKE von 1988 durch den kopf ging; wahrscheinlich wissen Sie, daß die zeilen Und wenig Wissen… und wie Wolken um die Zeiten legt aus GLASNOST wörtliche Hölderlin-zitate sind (in der Kritischen Textausgabe, die Volker Braun von mir erhielt, band 9 p 93, band 5 p 377); den vierzeiligen schluß von STRÖMFELD darf ich, wie gesagt, auf mich beziehen; Volker Braun erhielt, vermutlich schon 1985 nach verleihung des Bremer literaturpreises, meine THESEN ZUR STAATENLOSIGKEIT von 1976 (nochmals in 144 FLIEGENDE BRIEFE unter dem titel APOLITEIA); dieses O Meeresstille des Staats wäre, nach STRÖMFELD, der zweite trigonometrische punkt; den dritten sehe ich in DAS IST DIE MAHLZEIT, CAMARADE / Der Freiheit, hier dürfte Volker Braun dem 144. fliegenden brief ABENDESSEN widersprechen: neben dem verso abgebildeten wort aus Hölderlins KOLOMB recto der satz Das Wort Abend endet mit einem ängstigenden Zug: es ist angerichtet; dazu als fußnote der verweis ez. XXXIX; off. XIX; auf die dort zu findenden visionen zielt nach meinem verständnis die mit O Meeresstille des Staats im selbstzitat der erzählung WAS KOMMT? gelöschte zeile Die treibenden Leichen

nun gab Volker Braun 1993, nach meiner aufnahme in den P.E.N.-ost, die einführung zur lesung und diskussion der eben in der neuen bremer presse erschienenen kommentierten fassung der THESEN…; darin der in den früheren drucken fehlende BRIEF … Ihr tötet aus verletztem dünkel … ihr tötet als freiwillige söldner … Das volk für dessen recht ihr euch so maßlos einsetzt ist euch gerade noch gut genug als totenopfer eurer verzweiflung … Das feige das sich zuletzt immer an den unschuldigen auswütet das morden muß aufhören; hier wäre der von Volker Braun 1988 vermißte reale bezug; ich denke aber, daß die tilgung der allusionen in der erzählung eher künstlerische gründe hat, da sie in deren konzisem gang fremd wirken müssen; dagegen läßt sich das wahlbekenntnis des alten Borges auch im zusammenhang mit den THESEN 60 bis 62 lesen; zu 62 N i c h t  w ä h l e n .  lautet der kommentar: Inzwischen bin ich an einigen tristen sonntagvor- oder nachmittagen in das wahllokal meines viertels gegangen um gegen die jahrzehntelang herrschende partei der stadt zu votieren. Es gab keinen anderen grund als diesen einen und die opponierende partei die ich stattdessen wählte hatte nicht meine zustimmung. Notwendige erfahrungen des gefühls um nicht in die gefangenschaft von sätzen zu geraten. Leicht fanget aber sich / In der Kette, die / Es abgerissen, das Kälblein.

auf die 144 FLIEGENDEN BRIEFE und die 'Freiheit' der THESEN zielt übrigens auch Karl Krolows im herbst 87 entstandenes gedicht MUT FASSEN: Manchmal wußte man, wie / Freiheit gedieh und wo, / hatte eigene Demokratie / zwischen Plutarch und Rousseau, // fand Kraft zu neuem Mut / für einen Augenblick: / glaubt, was man selten tut, / an die eigene Republik. // Nimmt sich die Freiheit, der / Herr seiner selbst zu sein - / ein sonderbarer Mann / und mit der Freiheit allein.

vielleicht konnte ich Ihnen behilflich sein; mit freundlichen grüßen
Ihr
D E Sattler