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christian gampert, deutschlandradio, kultur heute, 10. mai 2008:

Mutter aller Editionen
D.E. Sattlers abschließender Hölderlin-Band und die Folgen eines Jahrhundertprojekts

Dietrich Eberhard Sattlers 1975 vorgestellte Frankfurter Hölderlin-Ausgabe revolutionierte die Welt der Editionen. Das entwickelte Verfahren erlaubte die genaue textgenetische Wiedergabe handschriftlich überlieferter Werke. in diesem Frühjahr hat D.E. Sattler mit dem 20. Band der chronologisch-integralen Edition seine über 30-jährige Arbeit am Werk Hölderlins abgeschlossen.
Es ist ein editorisches Lebenswerk, das hier vollendet wurde. Schon als Kind hat Dietrich Eberhard Sattler sich mit Hölderlin beschäftigt; und volle 33 Jahre, seit 1975, ist er nun Herausgeber einer Gesamtausgabe, die ihresgleichen sucht. Denn Sattler, der gern damit kokettiert, dass er ein germanistischer Autodidakt ist und keinen Schulabschluss hat, ist quasi in Hölderlin hineingekrochen, mit heilignüchternem Ernst und auch mit einer gewissen Besessenheit.

In seiner Ausgabe werden nicht nur die (immer vom Zerfall bedrohten) Handschriften faksimiliert wiedergegeben, sondern vor allem verschiedene Text-Schichtungen, Varianten, Verwerfungen, Überarbeitungen sichtbar gemacht, in unterschiedlicher typografischer Gestaltung, bevor sie dann historisch-kritisch kommentiert werden.

Der komplizierte, oft in sich widersprüchliche Entstehungsprozess von Literatur wird auf einmal nachvollziehbar, und gerade bei Hölderlin, dem zwischen Niedergeschlagenheit und Euphorie so schmerzvoll Hin- und Hergerissenen, ist dieser psychisch prekäre Zustand des Schreibens, der hier dokumentiert wird, viel wichtiger als eine philologisch hergestellte End-Fassung, die dann in den Lesebüchern steht.

Die etablierte Germanistik war zunächst empört, aber ein fester Stamm von Subskribenten, von denen die meisten den Abschluss der Ausgabe nun nicht mehr erleben dürfen, ermöglichte es K.D. Wolff und seinem kleinen Verlag "Stroemfeld/Roter Stern", das Projekt fortzusetzen.

Dabei war Sattler der damals etablierten Ausgabe von Friedrich Beißner durchaus verpflichtet: Unverständliches in den Handschriften habe er zu Beginn nur mit ihrer Hilfe entziffern können. Ausgangspunkt von Sattlers Arbeit war eine Irritation: ein unvollendeter Hölderlin-Satz, den er als Leser nicht glaubhaft fand. Und siehe da, sagt Sattler: im Archiv zeigte sich, dass an der Stelle Text fehlte.

"Und so hatte ich den Eindruck, dass das, was Hölderlin der Nachwelt überlassen hatte, mit seinen Überarbeitungen und diesen vielen, diesen palimpsesthaften, sich überlagernden Schriften, dass das die jungen Leser gar nicht erreicht, die es hauptsächlich angeht."

D.E. Sattler hat als Künstler begonnen: schon als 19-Jähriger, 1958, hat er Linolschnitte zu Hölderlin-Gesängen gefertigt, die die Tonwechsel der Gedichte aufnehmen. Der teure, auf 40 Exemplare limitierte Werkstatt-Band, mit dem Sattler die Gesamtausgabe nun abschließt, gibt diese Schnitte wieder und kehrt so zum Anfang zurück; die Publikums-Ausgabe dieses 20. Bands soll zeitnah erscheinen. Das Verhältnis zum Verlag sei gewesen wie eine lange Ehe, sagt Sattler: Nach einer Entzweiung müsse man wieder zusammenfinden.

"Die Ausgabe selbst hat sich prozessual verändert, sodass wir zunächst nach Dichtarten und Formen ediert haben; und jetzt erst zum Schluss erhält der Leser das ganze Werk noch einmal von einer anderen Seite beleuchtet, nämlich von seiner chronologischen Entstehung. Chronologisch-integrale Edition heißt jetzt dieser Band. Dieser Band hat die Form eines Registers aller vorherigen Bände und wird von Seite zu Seite mehr ein Lesebuch, sodass derjenige, der diesen Band 20 erwirbt, den ganzen Hölderlin noch einmal in der revidierten Form hat, quasi ein Überblick."

Der Abschlussband kommt also im Sommer, aber Sattler hat seine Arbeit beendet. In der kleinen Feierstunde, die das Deutsche Literatur-Archiv dem Hölderlin-Herausgeber ausrichtete, war es fast so, als lege jemand ein Amt nieder - und feiere Wiederauferstehung in anderer Gestalt. Denn Sattler ist auch ein großer Rezitator, der Hohepriester der Hölderlin-Deklamation, ein griechischer Rhapsode.

Zwar umspielten auch der Komponist Hans Zender und das Athena-Quartett an diesem Abend (mit der musikalischen Apparatur der Spätmoderne) das Polyphone, Zerstückelte und psychisch Angespannte der Hölderlin-Texte - purer aber war die stille Konzentration, mit der Sattler selber den Mnemosyne-Text sprach.

"Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren."

Sätze des Abschieds. "Hölderlin isch ed verrugd gwäh", nicht verrückt gewesen, so stand es jahrelang, gesprayt, am Tübinger Hölderlinturm. D.E.Sattler hat eine präzise Diagnose für den Zustand des Dichters: nicht Wahnsinn war es, sondern "Wahrsinn".