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von dr. charles de roche zu FHA 7/8 'gesänge'

Berg, 03.02.02

Lieber Herr Sattler,

Sie werden sich wohl schon über mein langes Schweigen gewundert haben, seit die ersehnten Bände 7/8 im letzten Sommer bei mir eingetroffen sind. Natürlich hatte ich die Absicht, Ihnen nach dem Studium der Bände zu diesem Thema zu schreiben, und habe auch einen Brief begonnen, der indessen Fragment blieb und bleiben muss – kein Hölderlinsches, nämlich eines von beträchtlicher Länge und vergleichsweise zu geringem Gewicht. Nach dem ersten einigermassen gründlichen Durchgang durch die Bände kann ich aufrichtigerweise nur sagen, was ich Ihnen sinngemäss schon bei der ersten Einsichtnahme in die Edition damals in Bremen sagte: auf eine Ebene der Einsicht zu gelangen, die Ihrer Konzeption, oder Vision, des ganzen Werkbereichs  u n d  dem Anspruch auf kritische Diskussion des Details gerecht würde, kann nur eine Arbeit von Jahren sein, das heisst eine, die in rein  k r i t i s c h e r  Absicht wohl kein Mensch jemals unternehmen wird. Damit erkläre ich mir objektiv mein subjektives Scheitern beim Versuch, Ihnen von meiner Lektüreerfahrung schriftlich Rechenschaft zu geben (die Rezensionen, die ich gelesen habe, bezeugen die Schwierigkeit auf andere Weise): das Ganze setzt das einzelne voraus, und umgekehrt, und eine Kritik, die diesen Wechselbezug nicht mitvollzieht, bleibt belanglos, ob sie sich lobend oder kritisch gibt. Darin liegt vermutlich der Preis für den im genauen Sinn epochalen Bruch, den Ihre Edition mit dem positivistischen Modell der empirisch begründbaren kritischen Edition vollzieht. Deren verborgen spekulativen Charakter, spekulativ nämlich auf die Entsprechung von Empirie und dichterischer Intention, legt Ihre Edition offen und stellt ihn zur Diskussion – nicht, wenn ich Sie hier richtig verstehe, um ihn zu verabschieden, sondern um der Spekulation als unabdingbarem Anteil an der  L e k t ü r e , und noch der allerzartesten Empirie, ihr Recht einzufordern. Darum bin ich froh (allein das subjektive Schuldgefühl Ihnen gegenüber trübt meine Freude), auf die Edition nicht als 'Wissenschaftler' kritisch reagieren zu müssen, sondern als Leser mit ihr leben zu dürfen – wann ich immer in den nächsten Jahren auf sie zurückkomme, wird sich die 'Kritik', im ursprünglichen griechischen Sinn des Wortes, von selbst vollziehen: als eine der Unterscheidung, und Individuation, des Lesers – der Möglichkeiten und Grenzen seines rezeptiven Vermögens – nicht weniger als des Gelesenen. Dahin geht und kommt jeder, wohin er es kann…
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Ihr Ch. de Roche