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ergaenzende mitteilung an die redaktion
zu: neue zuercher zeitung vom 19./20. januar 2002

dr. h. c. D. E. Sattler     Rutenstraße 8     D-28203 Bremen

Neue Zürcher Zeitung
redaktion
per e-mail

21. januar 2002

lieber herr Bucheli,

vielen dank für den raum, den Sie Hölderlin und meiner editionsarbeit in dieser guten weise gewidmet haben; zugleich erfuhr ich von der italienischen Hölderlin-ausgabe, die wohl im einverständnis mit dem verlag vorbereitet wurde, und auch das angedeutete urteil meines ersten mitarbeiters Wolfram Groddeck über die jüngsten bände, der zugleich eine deutsche leseausgabe auf der basis der arbeit von Luigi Reitani vorschlägt; diese möglicherweise auch vom verlag geteilte ansicht ist für mich insofern beunruhigend, als ich von anfang an meine historisch-kritische edition nicht als selbstzweck betrachtete, sondern als vorbereitung einer leseausgabe, die auch mir in meiner jugend genüge getan hätte; über deren herstellung unter dem titel 'Bremer ausgabe' habe ich mit dem land Bremen, das die arbeitsstelle und mich seit 1979 bezahlt, vor zwei jahren eine vereinbarung geschlossen; das alles ist herrn Wolff bekannt; ich sehe also dunkle wolken heraufziehen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen vorgang auch weiterhin mit kritischer aufmerksamkeit verfolgen würden

übrigens veröffentlichte Luigi Reitani die von ihm bevorzugte und in Wolfram Groddecks beitrag 'Übersetzung und Edition' herausgestellte Lesart des 'Ganymed'-drucks v. 6 'Nicht in der Kluft der Lüfte geschärfter Ziel?' statt '…der Lüfte geschärfter Spiel?' des entwurfs zur verlorenen druckvorlage schon in nummer 6 der bei Stromfeld erscheinenden zeitschrift 'Text'; ich habe damals nicht darauf geantwortet; in den vorstufen spricht der dichter deutlich von den südlichen lüften, die den 'gefesselten Strom' aus seinem eisesschlaf wecken; im turmgedicht 'Die Zufriedenheit', v. 20-24, hat Hölderlin, so wenigstens denke ich, die vermutlich auf einem lesefehler beruhende formulierung des drucks auf seine weise korrigiert: 'Der Männer Ernst, der Sieg und die Gefahren, / Sie kommen aus Gebildetheit, und aus Gewahren, / Es geb' ein Ziel; das Hohe von den Besten / Erkennt sich an dem Seyn, und schönen Überresten.' auch in einer zweiten nennung im gleichen gedicht wird das Wort eindeutig der Menschensphäre zugewiesen; ein anderes ist das 'Scharfer Othem aber wehet / Um die Löcher des Felses.' ('Die Titanen' v. 90/91); ähnlich hat Hölderlin einen zweiten, auch von Wolfram Groddeck in seinen wiederholten darlegungen zur authentischen druckgestalt der beim Frankfurter verleger Friedrich Wilmans erschienen 'Nachtgesänge' übersehenen fehler mit stiller bestimmtheit verbessert; in 'Lebensalter', v. 6/7, bietet der druck: 'Dieweil ihr über die Gränze / Der Othmenden seyd gegangen,'; auf der später entstandenen seite 74 des Homburger foliohefts findet sich die exakte grammatikalische richtigstellung ('Heimath' b v. 76/77): …und athmen Othem / Der Gesänge.' und auf derselben seite unten: 'Das Tagwerk aber bleibt, / Der Erde Vergesseneit, / Wahrheit schenkt aber dazu / Den Athmenden / Der ewige Vater.' ('Patmos' b v. 284-288); der dichter erinnert sich auch später noch voll unmuts an den verleger dieser letzten eigenhändig zum druck beförderten gedichte und der von zahlreichen druckfehlern entstellten Sophokles-übertragungen; anders als die früheren, zusammen mit Wolfram Groddeck und anderen edierten textbände bieten FHA 7/8 'gesänge' alle drucke in ihrer unveränderten gestalt und verzeichnen am rand die überlieferten varianten sowie die notwendigen emendationen, zum beispiel 'Andenken' v. 45/46 '…Mast' statt 'unter / Dem entlaubten Most'; so tragisch, so schwierig, so schön ist dies alles

sehr gefreut hat mich, daß Hanno Helbling in seinem das gleichgewicht herstellenden beitrag 'Unübersetzbar?' als erster jenes 'Ein Zeichen sind wir, deutungslos' unter dem FHA-titel 'Die Nymphe' zitiert; bitte teilen Sie ihm doch diese zeilen mit

selbstredend taugen die mitteilungen im zweiten absatz nicht als leserbrief; ich nahm nur die gelegenheit wahr, meinen standpunkt in dieser hochgespielten textkritischen detailfrage zu formulieren und werde diesen brief mit den beiden beiträgen in der Neuen Zürcher Zeitung in der abteilung 'rezensionen' des internet-archivs 'www.hoelderlin.de' veröffentlichen

mit freundlichen grüßen

D. E. Sattler